Es wird voll werden im Kapitol, denn heute jährt sich der Sturm auf das Herz der amerikanischen Demokratie zum ersten Mal.
US-Präsident Joe Biden besucht das Gebäude, in dem am 6. Jänner 2021 ein aufgepeitschter Mob versucht hatte, die Zertifizierung seines Wahlsieges zu verhindern und die Republik in Chaos und Anarchie stürzen wollte.

Bei einer einfachen Ansprache des Staatsoberhaupts wird es Nancy Pelosi, Sprecherin des Repräsentantenhauses, auch nicht belassen. Der Anschlag auf die erste Gewalt im Staat, er soll nicht vergessen werden. Den ganzen Tag über werden Gedenkveranstaltungen im Kongressgebäude stattfinden: Eine Schweigeminute wird es geben, eine Diskussion mit Historikern, ein gemeinsames Gebet am frühen Abend.
Es spricht viel dafür, dass die Präsidentenpartei einen großen Teil des Gedenkens allein durchführen wird.

Denn wie so vieles von Bedeutung in der amerikanischen Öffentlichkeit ist auch der Erinnerung an den 6. Jänner mittlerweile ein Opfer der tiefen politischen Spaltung des Landes geworden. Kevin McCarthy, ranghöchster Republikaner im Repräsentantenhaus, teilte seinen Mitgliedern jüngst mit, ein eigenes Andenken an den schlimmsten Angriff auf den Sitz der US-Demokratie seit dem Krieg von 1812 werde es nicht geben.

Einige besonders treu ergebene Anhänger von Ex-Präsident Donald Trump haben stattdessen angekündigt, den Jahrestag auf ihre ganz eigene Art zu begehen. Sie werden beim Podcast von Stephen Bannon, dem Leiter von Trumps erster Präsidentschaftskampagne und späteren Chefstratege, mitmachen - um den Sturm aufs Kapitol zu feiern. Trump selbst hatte zunächst eine Pressekonferenz angekündigt, gestern sagte er sie aber wieder ab.



Der 6. Jänner war ein Schock für das amerikanische System, doch der hielt nicht lange an. Dass aufgeputschte Trump-Anhänger, aufgestachelt vom damals noch amtierenden Präsidenten, mit Gewalt versuchen würden, das offizielle Zählen der Stimmen des Wahlleutekollegiums durch den Kongress zu stören, hatten die wenigsten Beobachter im Vorfeld des Angriffs für möglich gehalten. Wochenlang stand ein Schutzzaun um das Kongressgebäude, patrouillierten Soldaten auf dem Gelände. Mehrere Republikaner wandten sich von Trump ab, und dann doch wieder zu. Denn der Ex-Präsident hat die Parteibasis noch fest im Griff.

Als das Repräsentantenhaus kurz nach der Attacke ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Ex-Präsidenten einleitete, stimmten gerade noch zehn seiner Parteifreunde gegen Trump. Beim Prozess im Senat waren es nur sieben. Für die meisten von ihnen dürfte ihre politische Karriere damit beendet sein. Öffentlichen Widerstand gegen den Trumpismus leisten nur noch wenige.

Die Lüge von der "gestohlenen Wahl"

In ihrer Partei brauchen sie nicht auf Rückendeckung zu hoffen. Einer aktuellen Umfrage zufolge glauben mittlerweile zwei Drittel der Republikaner die Lüge, dass die Präsidentschaftswahl 2020 gestohlen wurde und Biden nur durch Wahlbetrug das Weiße Haus gewinnen konnte. Diese Überzeugung hat Folgen.

In mehreren Bundesstaaten, in denen die Partei alle Schalthebel der Macht kontrolliert, wurde das Wahlrecht so geändert, dass es Anhänger der Demokraten künftig schwerer haben dürften, ihre Stimme abzugeben. Unabhängige Wahlausschüsse und Wahlleiter wurden zudem geschwächt, die Rolle von politischen Akteuren gestärkt. Viele Demokraten sehen dadurch die Demokratie in den Vereinigten Staaten gefährdet. Dass sich das Land in der Krise befindet, glauben derzeit rund 70 Prozent der Gesamtbevölkerung. Auch die Akzeptanz für politische Gewalt wächst.

Für die Aufarbeitung des Anschlags ist das eine schlechte Voraussetzung. Zwar arbeitet im Repräsentantenhaus ein Untersuchungsausschuss an der Aufklärung, aber auch hier verweigern die Republikaner formal die Kooperation. Lediglich zwei Parteimitglieder arbeiten mit, gegen den erklärten Willen ihrer Parteiführung. Die Erkenntnisse sind jedoch schon jetzt beunruhigend.

Staatsstreich

Die USA schrammten haarscharf an einem Staatsstreich vorbei. Die Hinweise mehren sich, dass Trump auf den letzten Metern im Amt versucht hatte, das verfassungsrechtliche Fundament der USA auszuhöhlen.

Laut „Washington Post“ warnte Armeechef Mark Milley vor einem „Reichstagsmoment“. Der Noch-Präsident habe „wie Adolf Hitler 1933 eine Krise provozieren wollen, um einzugreifen und die Nation zu retten“, sagte Milley vor Vertrauten. Doch hören wollen Trumps Anhänger das nicht. In einer am Sonntag veröffentlichten Umfrage des Senders CBS News sagten zwei Drittel der Befragten, die US-Demokratie sei „bedroht“. Den Sturm auf das Kapitol halten sie demnach für ein „Zeichen zunehmender politischer Gewalt“.