Die UNO warnt vor einer humanitären Katastrophe in Afghanistan. Zu Beginn der kalten Jahreszeit drohen mehr als der Hälfte der 23 Millionen Afghanen Engpässe bei der Versorgung. Wie beurteilen Sie die Situation?

ISMATULLA IRGASCHEW: Die Lage ist äußerst schwierig. Das Volk hungert, es fehlt an Lebensmittel. Löhne für Ärzte und Lehrer können nicht bezahlt werden, es gibt keine Arbeit. Als Nachbarn dürfen wir das afghanische Volk nicht im Stich lassen. Afghanistan schuldet uns mehr als zehn Millionen Dollar für Stromlieferungen; doch wir können die Menschen nicht ohne Strom lassen, weil dieser grundlegend fürs Kochen und Heizen ist. Daher setzten wir die Lieferungen fort.

Die afghanischen Devisenreserven sind seit der Machtübernahme der Taliban eingefroren. Usbekistan ist dafür, dieses Geld freizugeben. Außerdem sind Sie für Dialog mit den Taliban. Warum?

Wir haben schon Erfahrungen aus der Zeit, als niemand mit Afghanistan reden wollte. Dadurch wurde ein Vakuum geschaffen, das internationale Terrororganisationen gefüllt haben. Europa ist nicht sehr gut über die Lage in Afghanistan informiert. Daher glauben viele, dass man mit den neuen Machthabern nicht zu sprechen braucht. Doch durch Ultimaten und Sanktionen kann man nur einen negativen Effekt erzielen, sodass dann aus Afghanistan noch mehr Bedrohungen hervorgehen werden, die den Terrorismus und radikale Ideen betreffen. Man muss jetzt die afghanischen Devisen freigeben, um das Leben des einfachen Volkes zu verbessern und einen positiven Einfluss auf die neuen Machthaber auszuüben. Unsere Gespräche haben gezeigt, dass die Führung der Taliban normale Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft will, und zwar auf der Basis gemeinsamer Interessen. Die Taliban versprechen, dass von ihrem Territorium keine Bedrohungen durch radikale Ideologien für die Nachbarstaaten ausgehen werden.



Konnten Sie bei den hochrangigen Gesprächen mit der neuen afghanischen Führung auch etwas in Bezug auf die Menschenrechte erreichen?

Die Taliban haben an der Nordgrenze zu Usbekistan keine Verbrechen verübt und sich auch nicht an früheren Mitarbeitern staatlicher Organe gerächt. Durch unseren konstruktiven Dialog mit den neuen Machthabern haben wir erreicht, dass in der Nordprovinz Balch die Mädchen von der ersten bis zur 12. Klasse die Schule besuchen.

Usbekistan hat die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 nicht unterzeichnet und auch nicht die Zusatzprotokolle dazu. Usbekistan war zwar die Drehscheibe beim Transport afghanische Flüchtlinge weiter nach Westen, nimmt aber selbst keine Flüchtlinge auf. Warum?

Wir sprechen schon sehr lange mit allen politischen Kräften in Afghanistan, und dazu zählen auch die Taliban. Mit allen diesen Kräften haben wir gleichmäßige Beziehungen und bevorzugen niemanden, auch nicht die Regierung. Wir wollten den politischen Dialog in Afghanistan unterstützen, um eine nationale Aussöhnung zu erreichen, weil das die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden ist. Daher haben wir keine Flüchtlinge aufgenommen, die Vertreter politischer Gegner der neuen Machthaber sein könnten. Das würde sich negativ auf unsere Neutralität auswirken. Hinzu kommt, dass Flüchtlinge für uns auch eine enorme soziale und wirtschaftliche Belastung wären.

Was waren die Gründe für den raschen Zusammenbruch der vom Westen gestützten afghanischen Regierung? Warum sind die USA und der Westen nach 20 Jahren in Afghanistan gescheitert?

Man darf eine fremde Ideologie und westliche Standards von Menschenrechten nicht künstlich einem Land auferlegen, das starke eigene Traditionen hat, die jahrhundertealt sind. Die Taliban und viele einfache Afghanen sahen das frühere Regime als Marionette an. Darüber hinaus waren einfache Afghanen wütend, dass praktisch die gesamte Führung Personen waren, deren Familien im Westen lebten; das waren Touristen im eigenen Land. Hinzu kam noch die Korruption.