Die Europäische Kommission ruft die EU-Länder auf, sich nach der Machtübernahme der Taliban auf mögliche Fluchtbewegungen aus Afghanistan vorzubereiten. "Wir sollten nicht die gleichen Fehler wie 2015 machen. Wir sollten nicht warten, bis die Menschen an den EU-Außengrenzen stehen", sagt die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson der "Welt am Sonntag" laut einem Vorausbericht. Unterdessen hat es im Gedränge am Flughafen von Kabul Medienberichten zufolge mehrere Tote gegeben.

Tausende Menschen wollen flüchten

Vor einer Woche hatten die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan wieder an sich gerissen. Seitdem versuchen unzählige Menschen verzweifelt, das Land zu verlassen. Am Samstag warteten bei starker Hitze weiter tausende Afghanen mit Ausreisepapieren auf Flüge. US-Soldaten hielten zugleich tausende Menschen ohne Papiere davon ab, auf das Flughafengelände zu gelangen. Aufnahmen des britischen Fernsehsenders Sky News zeigten, wie Soldaten mindestens drei Leichen mit weißer Plane abdeckten. Woran die Menschen starben, war zunächst unklar. Auch mehrere Verletzte waren zu sehen. Ein Sky-News-Reporter, der selbst am Flughafen war, berichtete, im Gedränge seien mehrere Menschen "gequetscht" worden.

Die EU-Innenkommissarin forderte, man müsse die Afghanen innerhalb des Landes und in den Nachbarländern der Region unterstützen. Die schwedische Politikerin rief aber auch alle EU-Länder auf, über das Umsiedlungsprogramm des UNO-Flüchtlingshochkommissariates mehr Menschen aus Afghanistan aufzunehmen."Die EU-Kommission ist bereit, solche Programme zu koordinieren und zusätzliche Finanzhilfen bereitzustellen."

"Neben den früheren Diplomaten vor Ort und den Ortskräftenmitihren Familien gibt es noch weitere Gruppen, die dringend der Hilfe bedürfen, wie beispielsweise Menschenrechtsaktivisten und Journalisten", sagte Johansson der "Welt am Sonntag". "Es geht auch darum, Mädchen und Frauen zu beschützen." Zu möglichen Fluchtbewegungen aus Afghanistan sagte sie, bisher bewegten sich nicht so viele Menschen nach Europa, "aber die Situation ändert sich jetzt schnell und wir müssen auf verschiedene Szenarien vorbereitet sein."

Kein politischer Dialog mit EU

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte zuvor bei einem Besuch in Spanien einen ähnlichen Appell an alle Staaten gerichtet, die an der Afghanistan-Mission beteiligt waren. Sie stellte finanzielle Hilfe für EU-Mitglieder in Aussicht, die Flüchtlinge aufnehmen. Von der Leyen stellte zudem klar, dass es derzeit zwar "operationelle Kontakte" zu den Taliban gebe, "um Leben zu retten". Es gebe aber keinen politischen Dialog und demzufolge auch "keinerlei Anerkennung der Taliban". Die von der Kommission vorgesehene humanitäre Hilfe für Afghanistan in Höhe von 57 Mio. Euro solle außerdem zwar aufgestockt werden, sei aber an die Einhaltung von Menschenrechten und der Rechte von Minderheiten und Frauen gebunden.

Laut dem spanischen Außenminister José Manuel Albares haben sich "fast alle EU-Staaten" bereit erklärt, Flüchtlinge aus dem Lager aufzunehmen. Die Afghanen sollen zunächst eine "befristete Einreiseerlaubnis" für Spanien erhalten, bevor ihnen von den verschiedenen Ländern, in denen sie sich niederlassen sollen, der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird.

US-Präsident Joe Biden erklärte unterdessen, er wolle die Taliban unter Druck setzen und Hilfen für Afghanistan während ihrer Herrschaft an "harte Bedingungen" knüpfen. So werde man genau verfolgen, wie die Islamisten ihre Landsleute und dabei speziell Frauen und Mädchen behandeln, sagte Biden am Freitag (Ortszeit) in einer Ansprache.

Türkei könne "keine zusätzliche Belastung" tragen

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach am Samstag mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan über die Lage in Afghanistan. Nach Angaben der türkischen Regierung wies Erdogan in dem Telefonat darauf hin, dass die Türkei im Falle einer verstärkten Fluchtbewegung aus Afghanistan diese "zusätzliche Belastung" nicht tragen könne. "Eine neue Migrationswelle ist unausweichlich, wenn in Afghanistan und im Iran nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden", sagte Erdogan demnach. "Die Türkei, die bereits fünf Millionen Flüchtlinge hat, kann keine zusätzliche Belastung von Migranten tragen."

Unterdessen warnt die US-Regierung amerikanische Fluglinien vor, sie könnten angewiesen werden, sich an der Evakuierung der Flüchtenden aus Afghanistan zu beteiligen. Zwei Offizielle, die anonym bleiben wollten, sagten Reuters am Samstag, man habe den Fluglinien am Freitag eine Warnung geschickt. Die Maschinen der Fluglinien würden jedoch nicht nach Afghanistan fliegen, sondern die Evakuierten von Stützpunkten im Nahen Osten und in Deutschland abholen.

Die Taliban machen unterdessen einem ihrer Repräsentanten zufolge Fortschritte bei der Bildung einer Regierung und einer Verbesserung der Sicherheitslage im ganzen Land. Mit früheren Verwaltungsmitarbeitern liefen Gespräche über die finanzielle Krise und eine Wiedereröffnung der Banken, sagt er der Nachrichtenagentur Reuters. Es werde zudem versucht, über das Wochenende die Lage am Flughafen von Kabul zu verbessern.