Wenn man sich das Ergebnis der französischen Regionalwahlen ansieht, die Aussichten des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, die Umfragen der SPÖ in Österreich, stellt sich unweigerlich die Frage: Was ist los mit den Sozialdemokraten? Hat sie ihre Mission erfüllt?

FRANZ VRANITZKY: Ja, es gibt die harte Diagnose, die da lautet: Ihr wart 100 Jahre lang erfolgreich, nun seid ihr nicht mehr notwendig. Der Kampf für mehr Gerechtigkeit ist nie zu Ende, deshalb ist die Mission nicht zu Ende. Natürlich haben sich die äußeren Bedingungen außerordentlich schnell verändert. Wir haben es mit großen Migrationsströmen zu tun, nicht nur in Europa, mit der elektronischen Revolution …

Sie meinen die Digitalisierung?

Ich bin mit dem Wort Digitalisierung zurückhaltend, weil sich viele Leute darunter nichts vorstellen können. Und drittens die Entwicklungen im internationalen Industriegeschehen mit Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitsbedingungen, Lieferketten. Das sind dramatische  Entwicklungen, die durch die sozialen Medien anders kommuniziert werden als vor 20 bis 30 Jahren. Frankreichs Präsident Francois Mitterrand hat einmal zu mir gesagt: Die Sozialdemokratie bewegt sich wie ein großer Tanker, der ewig lang zum Wenden braucht. Ich bin zuversichtlich, wenn es gelingt, die Veränderung in eine humanitär bewusste Form zu gießen und gleichzeitig den Beweis anzutreten, dass neoliberale oder rechtspopulistische Politiker keine echte Antwort liefern. Der Schlüssel sozialdemokratischen Erfolgs liegt in den handelnden Personen. Man muss das alles vermitteln können. Wenn man es nicht vermitteln kann, ist man in der Politik nicht gut beheimatet.

Ist das jetzt eine Kritik an der Parteivorsitzenden?

Nein. Sie haben mich ja nicht nach der Parteivorsitzenden gefragt, sondern, was mit der Sozialdemokratie los ist.

Bei der Migration tut sich die Sozialdemokratie besonders schwer. Kärntens SPÖ-Chef Kaiser präsentiert ein Programm, das nicht am Parteitag behandelt wird. Doskozil hat sich in die innere Emigration zurückgezogen.

Dass sich die Sozialdemokratie schwer tut, gereicht ihr zur Ehre. Die anderen fordern einfach Stacheldrahtzäune. Die Sozialdemokraten sagen: Man kann nicht alle aufnehmen, aber man kann auch nicht alle zurückweisen. Die Menschen kommen nicht aus Jux und Tollerei über das Mittelmeer, sondern fliehen, weil sie verfolgt werden, vor dem Hunger flüchten oder keine Perspektive mehr besitzen. Es ist ja nicht so, dass Ameisen daherkommen, man einen Spray nimmt und das Problem erledigt ist.  

Ist die rigide Position von Doskozil überhaupt noch eine sozialdemokratische?

Rendi-Wagner hat eine Partei übernommen, die zwei Vorsitzende unter nicht gerade förderlichen Umständen verloren hat. Sie hat als Newcomerin und als erste Frau an der Spitze die Partei übernommen, ist mit hoher Mehrheit gewählt worden, aber das war es dann schon. Manche haben zu nörgeln begonnen, aber diese Phase ist vorüber. Sie hat die Partei stabilisiert, allerdings ist man noch weit weg von der Umfragezustimmung der ÖVP.

Und Doskozil?

Hans-Peter Doskozil ist einer von uns. Er hat immerhin eine absolute Mehrheit errungen, das ist beachtlich. Ich sehe das pragmatisch. Es gibt unterschiedliche Meinungen, aber wir gehören alle zusammen.   

Soll der Zugang zur Staatsbürgerschaft gelockert werden?

Ich kenne jemanden, der kommt aus Polen, lebt seit 34 Jahren in Wien, hat zwei Söhne, die in Wien geboren, spricht Deutsch wie Sie und ich, investiert in Österreich, zahlt seine Steuern, geht hier in Konzert. Warum soll jemand, der hier geschätzt wird, nie nach Polen zurückkehren will, nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht erhalten? Man kann ihn doch nicht mit einem tschetschenischen Messerstecher vergleichen. Den Vorschlag von Peter Kaiser muss man gründlich durchdenken. Das sture Nein des Kanzlers zeigt, dass er nicht bereit ist, über ein so wichtiges Thema nachdenken zu lassen.

Rendi-Wagner hat sich als Epidemiologin bewährt. Ist sie die Kandidatin der Zukunft, die die schwierigen Transformationsprozesse, die Sie zuvor angesprochen haben, vermitteln kann? Oder ist sie eine Zwischenlösung?

Das ist eine berechtigte Frage. Aufgabe jeder Parteiführung ist es, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen und darauf konkrete Antworten zu finden. Rendi-Wagner ist in der Pandemie als seriöse Expertin in Erscheinung getreten. Ich traue ihr zu, dass sie die Themen aufgreift und Positionen für die Partei erarbeitet.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass die SPÖ bei der nächsten Wahl vorne ist?

Man muss in die Zukunft immer mit Hoffnung und Optimismus hineingehen. Sonst kann man es gleich bleiben lassen.

Sie waren Bundeskanzler, als vor 30 Jahren der Krieg in Slowenien begann. Waren Sie überrascht über die Entwicklung? Oder war es vorhersehbar?

Ich war in den Monaten zuvor mit zwei widerstrebenden  Positionen konfrontiert. Auf der einen Seite die Position der jugoslawischen Zentralregierung, wo mir der damalige Premier Markovic gesagt hat, es sei nicht mehr auszuschließen, dass sich die einzelnen Republiken lossagen, er alles tun werde, um es zu verhindern. Die andere Meinung wurde bei einem Treffen der Zentraleuropäischen Initiative in Dubrovnik mit allen Regierungschefs deutlich, wo Markovic die Begrüßungsrede hielt, sich dann der kroatische Präsident Tudjman zu Wort meldete und sinngemäß sagte: Was Markovic sagt, geht an der Realität vorbei, denn wir befinden uns im Krieg. Uns allen war sofort klar, dass die Situation brandgefährlich ist.

Das klingt so, als ob Sie keine Sympathien für den Unabhängigkeitsbestrebungen der Slowenen aufbringen?

Die Position der Slowenen war durchaus verständlich. Sie haben argumentiert, dass sie sich zu Mitteleuropa zugehörig fühlen und sich nicht als Balkanvolk verstehen. In Österreich gab es konservative Kräfte, die den Zerfall Jugoslawiens als Kampf gegen den Kommunismus interpretiert und begrüßt haben. Was dort aber ausbrach, war ein Uraltkonflikt, der bis in die Zeit des Osmanischen Reich zurückgereicht hat.

ÖVP-Außenminister Mock nahm eine andere Position als Sie ein und hätte am liebsten Slowenien und Kroatien am ersten Tag anerkannt.

Ich musste in der Regierung immer wieder Kanten abschleifen, weil ich der Auffassung war, es hat keinen Sinn, Partei zu ergreifen, auch weil wir neutral waren. Ich war mit dem deutschen Kanzler Helmut Kohl im intensiven Austausch. Kohl hat mir gesagt, dass Deutschland keinen Alleingang plant, sondern im europäischen Gleichklang vorgeht. Ich habe Mock dann gesagt: Wir sind EU-Beitrittskandidaten, wir sollten im europäischen Gleichklang vorgehen. Damit war die Frage geklärt.

Sie haben Mock zurückgepfiffen?

Ich würde das Wort einem Außenminister gegenüber nicht verwenden, aber es war klar, dass ein solcher Beschluss von der gesamten Regierung zu erfolgen hat, nicht von einem Außenminister allein.

Luxemburgs Außenminister Poos hat als damaliger EU-Vorsitzender großspurig erklärt, die Stunde Europas sei gekommen.  

Das war wohl eine kapitale Fehleinschätzung. Tudjman und Milosevic waren damals wild entschlossen, Belgrad hatte die Unterstützung Moskaus.  Die britische Premierministerin Margarete Thatcher hat mich bei einem Besuch in London gebeten, dass ich ihr den Konflikt am Balkan schildere. Als ich fertig war, hat sie gesagt: Um Gottes willen, wir haben in Nordirland ein ähnliches Problem, und das seit ewigen Zeiten. Der spanische Ministerpräsident Felipe Gonzales hat bei einem Besuch in Madrid gemeint: Wir haben mit Marokko so große Probleme. Um den Konflikt am Balkan müsst ihr euch in Mitteleuropa kümmern.

Es gibt bis heute eine Debatte, ob man das österreichische Bundesheer nicht hätte mobilisieren sollen, als der Krieg in Slowenien ausbrach?

Das Verteidigungsministerium wie auch das Bundesheer haben ihre Sache damals richtig gemacht. Womit wir damals erstmals konfrontiert waren, war eine große Flüchtlingswelle. Viele Bewohner aus dem Raum waren bereits in Österreich als Gastarbeiter. Zum Glück ging das alles gut, es gab keine Exzesse und keine Gefährdung der österreichischen Bevölkerung.