Der meteorologische Frühling kann dem politischen Winter in Russland derzeit offenbar nichts entgegensetzen: Nachdem die russischen Behörden den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny zur Haft im Straflager verurteilt und seine Bewegung zur "extremistischen" Organisation erklärt haben, setzen sie nun zum Schlag auch gegen die weniger bekannte und auch weniger schlagkräftige, moderate Opposition an.

Schon auf der Startbahn

Vor wenigen Tagen wurde der liberale Petersburger Duma-Kandidat Andrej Piwowarow aus einer Linienmaschine geholt und festgenommen. Der Passagierjet der polnischen Fluglinie LOT stand bereits auf der Startbahn, um von St. Petersburg nach Warschau abzuheben. Am Montag wiederum reiste der frühere Parlamentsabgeordnete Dmitrij Gudkow aus Russland aus - endgültig. Seine Flucht begründete er damit, dass ihm "Quellen aus der Präsidialadministration" mitgeteilt hätten, dass er andernfalls festgenommen würde. Warum? "Es ist ihnen sehr wichtig, zu demonstrieren, dass sie bereit sind, selbst die gemäßigtste Opposition zu vernichten", sagte Gudkow. Vor der Regional- und Parlamentswahl im Herbst zeigt sich: Selbst lokale oder außerparlamentarische Opposition wird nicht mehr geduldet.

Andrej Piwowarow leitete bis vor Kurzem die Organisation "Offenes Russland", die unabhängige Politiker, die bei Wahlen antreten wollten, vorbereitet und gefördert hatte. "Offenes Russland" ist eine Organisation, die für Demokratisierung eintritt. Gegründet wurde sie ursprünglich von Michail Chodorkowskij, dem einstigen Yukos-Chef, der nach politischen Ambitionen zunächst im Gefängnis und später im Exil landete. Piwowarow droht nun eine Anklage wegen Zusammenarbeit mit einer nicht erwünschten Organisation. Die Festnahme Piwowarows gilt auch als finaler Schlag gegen Chodorkowskij und "Offenes Russland". Im März wurde ein von Piwowarow organisiertes Treffen von rund 200 Lokalabgeordneten in Moskau mit Gewalt unterbunden.

Kritik geäußert

Dmitrij Gudkow wiederum ist ein Oppositionspolitiker mit Erfahrung, er saß selbst in der Staatsduma. 2017 gelang es ihm, eine ganze Welle von Oppositionskandidaten in Moskaus Bezirksparlamente zu bringen. Dennoch gilt er keineswegs als Oppositioneller, der Putin und der Kreml-Partei gefährlich werden könnte. Bis 2011 vertrat er auch Kreml-Positionen. Sein Vater Gennadij Gudkow, der ursprünglich für den Geheimdienst arbeitete, war eine Zeitlang Vize-Chef der kleineren Kreml-Partei "Gerechtes Russland". Doch 2011 beteiligte sich Sohn Dmitrij Gudkow an den Protesten gegen Fälschungen bei der Präsidentenwahl.

Probleme mit der Tante

Jetzt, wo bekannt wurde, dass er bei der Duma-Wahl antreten will, wird Dmitrij Gudkow vorgeworfen, die Firma seiner Tante habe Räumlichkeiten angemietet und nicht dafür bezahlt. Gudkow sagt, er habe nichts mit der Firma der Tante zu tun. Dennoch kam er zwei Tage lang in Untersuchungshaft, die Ermittlungen gegen ihn werden fortgesetzt.

Keiner kann antreten

Klar ist, dass weder Nawalny, seine Vertrauten, Gudkow oder Piwowarow bei der Wahl im Herbst antreten können. Die Duma hat kürzlich eine Regelung verabschiedet, die vorsieht, bestimmte Kandidaten wegen der Zusammenarbeit mit "extremistischen und terroristischen" Organisationen von allen Wahlen auszuschließen. Die Stimmung im Volk ist mäßig, was mit den Folgen der Corona-Pandemie, aber auch mit steigenden Preisen zu tun hat. Offensichtlich herrscht unter den Regierenden die Befürchtung, dass der Unmut bei der Wahl zum Ausdruck kommen und die Kreml-Partei schlecht abschneiden könnte.

Kriminalisierung

Bisher galt für die Opposition das ungeschriebene Gesetz, dass, wer sich nicht direkt mit Putin und den Geheimdiensten anlegt und selbst nicht zu prominent wird, seiner Oppositionstätigkeit einigermaßen ungestört nachgehen kann. Das hat sich nun offenbar geändert. "Man versucht, die Zivilgesellschaft einzuschüchtern, indem man den Bürgern zeigt, dass jedes Nichteinverständnis mit der Staatsmacht als strafbare Handlung gilt. Und dass Oppositionsaktivitäten nun kriminell sind", schreibt der Petersburger Abgeordnete Boris Wischnewski auf "Telegram". Und weiter: "Unter die Walze der Repressionsmaschine kann jeder geraten, der es wagt, sich über das Geschehen zu erregen. Oder wer die Verfolgten unterstützt. Oder wer einen Machtwechsel durch Wahlen fordert. Oder wer als Oppositionskandidat an Wahlen teilnimmt. Niemand ist mehr sicher.“