In der Millionenstadt Cali waren am Samstag mehr als 1.100 von Präsident Iván Duque entsendete Soldaten im Einsatz, um die Ordnung wiederherzustellen. Cali ist das Zentrum der Demonstrationen gegen Duques Regierung, bei denen bereits dutzende Menschen getötet wurden. Menschenrechtsaktivisten werfen den Sicherheitskräften unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstranten vor.

In Cali zeugten am Samstag Berge aus Schutt und rauchende Überreste von Barrikaden von einer weiteren chaotischen Protestnacht. Am Freitag waren in der drittgrößten Stadt Kolumbiens nach Polizeiangaben 13 Menschen getötet worden, acht von ihnen durch Schüsse. Die Zahl der Toten seit Beginn der Proteste Ende April erhöhte sich nach offiziellen Angaben damit auf 59, die Zahl der Verletzten auf mehr als 2300.

63 Tote landesweit

Human Rights Watch erklärte, es gebe "glaubwürdige Berichte" über mindestens 63 Tote landesweit. Die Situation in Cali sei inzwischen "sehr ernst", erklärte der Amerika-Direktor der Organisation, José Miguel Vivanco. Er forderte von Präsident Duque Sofortmaßnahmen zur Entschärfung der Lage. Unter anderem müsse Staatsvertretern der Einsatz von Schusswaffen verboten werden.

Duque hatte am Freitagabend (Ortszeit) die Entsendung von insgesamt 7.000 Soldaten in zehn Regionen des Landes angeordnet, in Cali sollten demnach 1.141 Soldaten die örtlichen Polizeikräfte unterstützen. Bei einem öffentlichen Auftritt in der Stadt am Samstag wurde der konservative Staatschef von jungen Menschen ausgebuht.

Ein Augenzeuge der Ereignisse vom Freitag sagte der Nachrichtenagentur AFP, Demonstranten hätten das einmonatige Jubiläum der regierungskritischen Proteste gefeiert, als plötzlich Schüsse zu hören gewesen seien. "Sie haben angefangen, die Menschen zu massakrieren", sagte der 22-jährige Zeuge. Abgegeben worden seien die Schüsse von fünf Männern in ziviler Kleidung. Videos, die in den Online-Netzwerken verbreitet wurden, stützten diese Darstellung.

Militärische Verstärkung für die Polizei

Die Polizei erklärte, die Berichte würden untersucht. Das für die öffentliche Sicherheit zuständige Mitglied der Stadtverwaltung, Carlos Rojas, sagte, die Konfrontationen in Cali hätten am Freitag fast die Dimension eines "urbanen Kriegs" erreicht. Es sei "nicht hinnehmbar", dass Demonstranten die Stadt "in ein Schlachtfeld verwandeln" wollten, fügte er hinzu.

Viele Bewohner von Cali fürchten sich indessen vor den nun in ihre Stadt verlegten Soldaten. "Wir fühlen uns bedroht, wir fühlen uns in größerer Gefahr", sagte die 31-jährige Lina Gallegas zur AFP. "Wenn etwas passiert, können wir nicht die Polizei rufen, weil sie es sind, die uns töten." Der Politikwissenschaftler Luis Felipe Vega sagte, die militärische Verstärkung für die Polizei gleiche dem Versuch, einen Brand zu löschen, "indem man Öl ins Feuer gießt".

Die Proteste in Cali und anderen kolumbianischen Städten hatten sich ursprünglich an einer geplanten Steuerreform entzündet, die inzwischen zurückgezogen wurde. Die Proteste richten sich nun aber allgemein gegen die Regierung. Die Demonstranten fordern bessere Arbeitsbedingungen, eine Reform des Rentensystems, einen besseren Schutz von Menschenrechtsaktivisten und die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens mit der linksgerichteten Ex-Guerillabewegung FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens). Die Proteste sind die blutigsten seit dem Friedensabkommen des Jahres 2016.

Corona-Lage verschärft

Während die Proteste Kolumbien in Atem halten, verschärft sich in dem Land derzeit wieder die Corona-Lage. Am Samstag meldeten die kolumbianischen Behörden mit 540 Todesfällen im Zusammenhang mit Covid-19 einen neuen Rekord. Insgesamt wurden in Kolumbien seit März 2020 mehr als 87.700 Todesfälle durch das Coronavirus und mehr als 3,3 Millionen Corona-Infektionen registriert.