Sie haben gemeinsam mit dem US-Politologen Stephen Holmes im Buch „Das Licht, das erlosch“ die Wende in Osteuropa, die der US-Historiker Francis Fukuyama einst als „Ende der Geschichte“ beschrieb, als Eintritt in eine Phase der Imitation beschrieben. Warum war es für Osteuropäer überhaupt notwendig den Westen zu imitieren?

IVAN KRASTEV: Nach der politischen Wende 1989 hat Francis Fukuyama die These verkündete, dass die einzige Zukunft für die Menschheit in einer westlichen liberalen Demokratie liege. Diese Idee basiert psychologisch und historisch auf zwei Annahmen. Die eine davon ist die Selbstverliebtheit der Amerikaner in ihr System. Wir haben den Kalten Krieg gewonnen und daher müssen alle so sein wie wir.

Das Überleben der liberalen Idee war also US-zentrierte Sicht?

KRASTEV: Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Tatsache, dass es im Kommunismus Schulbuchwissen war, dass die Geschichte nur eine Richtung kennt, die unaufhaltsam auf ein Endziel hinsteuert, und der Kommunismus das Endziel sei. Es war 1989 wahrscheinlich einfacher, die Idee aufzugeben, der Kommunismus sei das Endziel, als die Idee aufzugeben, dass die Geschichte ein Ende hat. So brach über Nacht das kommunistische System ohne Grund zusammen und die Leute konnten nicht verstehen, warum dies passiert ist. Daraus folgte die Antwort: Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen, die liberale Demokratie im Westen hat überlebt, also hat diese Seite das einzige System, das funktioniert. Und es ist das System, das die Erde nun übernehmen sollte.

Es war also eine Zwangsläufigkeit?

KRASTEV: Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass diese Ausgangslage besonders auf Russland zurückzuführen ist. Das Ende des Kommunismus kam abrupt. Aber heute verhalten sich die Leute so, als ob jeder den Zusammenbruch des Kommunismus irgendwann erwartet habe. Aber das war nicht der Fall. In gewisser Weise reden die Leute so, als habe der Übergang in der Natur der Sache gelegen, aber das war es 1989 zunächst nicht.

Warum?

KRASTEV: Es war hochgradig unsicher. Denn man hatte eine Atommacht, die im Grunde kampflos zusammenbricht. Es gab auch dort eine Ideologie, die versucht hat, die Welt zu regieren. Bereits 1983 erschien ein vieldiskutiertes Buch, warum Demokratien untergehen werden.  Eine sehr überzeugende Erklärung, warum Demokratien selbstzerstörerisch sind, und sie nicht wissen, wie sie sich selbst verteidigen können, wenn sie vom Sowjetkommunismus zerstört werden. Es erschien zum Ende der ersten Amtszeit von Reagan. Mit diesem Blickwinkel ist der Zusammenbruch des Kommunismus eine Überraschung. Ein deutscher Regierungsberater sagte einmal: Ein Teil des Zweifels 1989 lag darin, dass ein Ergebnis unerwartet passierte, als wir glaubten zu wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Plötzlich waren alle anderen Bilder von der Zukunft verschwunden.

War man im Osten Europas also zum Nachahmen gezwungen?

KRASTEV: Der Nachahmungsimperativ bedeutet nicht, dass die Amerikaner oder Europäer anderen sagten: Werdet so wie wir. Es sagten plötzlich nur alle: Es gibt nur ein Modell, das funktioniert. Das ist das Modell, das wir imitieren sollten, denn das ist modern. Demokratisch zu sein, westlich zu sein, das war der Weg, modern zu werden. Das alternative Modell war ja kollabiert.

Was hatte das für Folgen?

KRASTEV: Es folgten daraus zwei Dinge: Erstens verlor der Westen seine kritische Perspektive zu sich selbst. Wenn alle so sein wollen wie du, dann wirst du perfekt sein. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hält man an sich selbst fest und glaubt, alle Probleme, die man hat, seien nur zufällig. Zweitens sieht man auf die Probleme der anderen und glaubt, dass alle diese Probleme gelöst werden, wenn der andere nur tut, was man selbst tun. Aber auf der anderen Seite fangen die Nachahmer an, Nachahmung als eine Art Demütigung zu empfinden. Wenn ich wie jemand anderes sein will, bedeutet das nicht, dass ich nicht wertvoll bin. Es bedeutet nicht, dass meine Identität nicht wichtig ist. Und hier ist die widersprüchliche Modernität, über die wir sehr viel diskutieren. Auf der einen Ebene soll man den Westen imitieren, um modern zu sein. Auf der anderen Seite muss man originell und einzigartig sein, um modern zu sein.

Warum hat sich das irgendwann umgekehrt?

KRASTEV: Um das Prinzip „Vergeltung der Nachahmung“ zu verstehen, betrachten wir die Parteien und Bewegungen von Orban oder Kaczyński wie die zweite Generation von Migranten. Die erste Generation von Migranten kommt, weiß was vorher ablief und ist fasziniert von der Welt, die sie sieht. Alles, was diesen Menschen gelingt, um sich in diese Welt zu integrieren, empfinden sie als Erfolg. Und das galt auch für die erste Generation von liberalen Führern im Osten Europas. Es galt das Motto: Je mehr wir uns ganz dem Westen angleichen, desto mehr ist das unser Erfolg. Soziologen wissen aber sehr gut, dass Phänomene wie Radikalismus oder islamischer Fundamentalismus typisch für die zweite Generation sind. Diese Menschen steigen bereits von Anfang an in den Westen ein und sind viel westlicher orientiert als die Menschen der vorherigen Generation.

Was passiert mit dieser Generation?

KRASTEV: Sie beginnen dann, die Grenzen der Integration zu spüren. Von ihrer Auseinandersetzung mit Identitäten wird ein Leiden verursacht. Sie spüren das Prinzip: Wenn ich so sein will wie du, heißt das, dass ich nicht weniger wertvoll bin als du. Und dann beginnt eine sehr wichtige psychologische Geschichte. Wir diskutieren in dem Buch „Das Licht, das erlosch“ viel darüber, was es bedeutet, normal zu sein. Was ein entscheidender Schlüssel für die Zeit nach 1989 ist.

Und was bedeutet es?

KRASTEV: Normalsein bedeutet, eine Norm zu haben. In Westeuropa war der Westen die Norm. Also sagten wir Osteuropäer, wir wollen nicht korrupt sein, denn es ist nicht normal, korrupt zu sein. Normal bedeutet: Was tun die meisten Menschen, was ist weit verbreitet? Wenn man in Bulgarien lebt, ist es also nicht normal, korrupt zu sein, aber es ist auch nicht unnormal, korrupt zu sein. Und das geht nicht lange gut. Sie müssen lernen, damit umzugehen. Der schwierige Weg dorthin ist, das System zu reformieren und immer weniger korrupt zu werden. Der einfachere Weg ist aber, zu sagen: Wisst ihr was, die sind genauso korrupt wie wir, sie verstecken es nur besser. Die Österreicher sind genauso korrupt wie die Rumänen, aber sie wissen, wie sie es höflich tun können, während es bei uns offensichtlich ist. Also fängt man an, die anderen für sich zu normalisieren, indem man sagt, sie sind nicht anders als wir. Das ist ein Aspekt der Doppelmoral, der sehr zentral geworden ist. Das geht einher mit dem Gefühl: Ihr im Westen behandelt uns anders. Ihr tut so, als ob ihr anders wärt, dabei seid ihr doch gar nicht anders. Das war ein psychologischer Mechanismus. Leute in Osteuropa, die so sein wollten wie die Leute im Westen, sagten plötzlich: Nein, du bist wie ich. Wir sind ähnlich, aber nicht, weil ich das erreicht habe, was du erreicht hast. Sondern nur, weil ich erkenne, dass du nicht besser bist als ich.