Im Istanbuler Stadtteil Sisli ist eine Gedenktafel in den Boden eingelassen. Es ist die Stelle, an der Hrant Dink ermordet wurde. Der bekannteste Vertreter der armenischen Minderheit in der Türkei hatte sich als Herausgeber der zweisprachigen Wochenzeitung „Agos“ für die Rechte der armenischen Minderheit eingesetzt. Weil er die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnete - für viele in der Türkei ein Tabubruch -, geriet er ins Visier türkischer Nationalisten.

Am 19. Jänner 2007 wurde er vor dem Redaktionsgebäude seiner Zeitung in Istanbul auf offener Straße erschossen. Hrant Dinks Mörder war ein knapp 17-jähriger türkischer Nationalist aus der Schwarzmeerstadt Trabzon. Er schoss dem armenisch-türkischen Journalisten drei Kugeln in Nacken und Hinterkopf. Der blutjunge Attentäter war schon einen Tag nach der Tat gefasst und wurde zu einer Haftstrafe von knapp 23 Jahren verurteilt. Auch mehrere Hintermänner wurden mittlerweile verurteilt. Da die Hintergründe der Tat - und die Verwicklungen Ankaras - aber nach wie vor nicht aufgeklärt sind, beschäftigt der Fall seit mehr als 14 Jahren weiterhin die Gerichte.

Heute wurde im Hrant-Dink-Prozess gegen weitere 76 Angeklagte des mutmaßlichen Mordkomplotts ein Urteil gesprochen. Das Istanbuler Gericht verhängte lange Haftstrafen gegen Hintermänner der Tat. Drei Angeklagte wurden wegen Mordes zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Weitere Haftstrafen wurden wegen Verstoßes gegen die Verfassung, Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation, fahrlässiger Tötung oder Dokumentenfälschung verhängt.

Nach dem Urteilsspruch kritisierten Anwälte und Freunde Dinks, der Prozess habe die Hintergründe nicht aufklären können. Erol Önderoglu von der Organisation Reporter ohne Grenzen sagte, es hätten mindestens noch 20 weitere Staatsbeamte in diesem Verfahren angeklagt werden sollen.

Hrant Dink
Hrant Dink © AP

Der Völkermord an den Armeniern

Am 24. April 1915 wurden im Osmanischen Reich prominente armenische Intellektuelle festgenommen und deportiert. Armenier in der ganzen Welt erinnern im April an den Jahrestag des Beginns der Vertreibungen. Bei den etwa zwei Jahre dauernden Deportationen und Massakern starben laut armenischen Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Menschen, für sie ist es ein "Völkermord“. Die Türkei, als Rechtsnachfolger der Osmanen, lehnt die Bezeichnung Genozid strikt ab.

Die Türkei spricht von Gewalt auf beiden Seiten, einen organisierten Genozid habe es nicht gegeben. Die Deportationen seien eine Sicherheitsmaßnahme gegen eine verräterische Minderheit gewesen. Berichte über Todesmärsche durch die syrische Wüste, Lagerhaft für Überlebende und von Behörden angeordnete Massaker - all dies weist die Türkei bis heute zurück.

Trauma und Paranoia

Viele Armenier verlangen, dass Ankara den "Völkermord" endlich anerkennt und die Nachfahren der Opfer entschädigt. Hrant Dink sprach von dem Trauma der Armenier auf der einen und der Paranoia der Türken auf der anderen Seite. Doch er hatte auch gesagt, dass die Stille des Vergessens die Basis dafür ist, dass sich die Geschichte wiederholt.

"Die Arithmetik des Bluts"

Es gibt drei Arten des Erinnerns, sagte uns Varujan Vosganian einmal, der Armenier in Rumänien: "Vergeben, Vergessen oder Rache." In seinem Roman "Buch des Flüsterns" arbeitete der ehemalige rumänische Wirtschaftsminister das Trauma des Genozids auf.  Im Interview erklärte er uns: "Vergessen bedeutet, dass man sich selbst vergisst. Man kann das Fenster schließen und hört den Straßenlärm nicht mehr." Doch der Lärm sei noch da. "Die Rache ist die gefährlichste aller drei Möglichkeiten. Überall auf der Welt vermehrt die Rache das Leid. Es gibt keine Arithmetik des Bluts. Zwei getötete Menschen von hier gegen zwei getötete Menschen von dort ergibt niemals null, sondern vier. Mein Großvater Garabet entschied sich für den dritten Weg: für das Vergeben, für ihn das Wesentlichste im Leben. Vergeben ist ein Dialog und beinhaltet, dass Dinge nicht mehr geschehen. Denken Sie an Willy Brandt, wie er in Warschau kniete: Das ist mit ein Grund, warum die Juden den Deutschen vergeben haben. Brandt signalisierte: Das werden wir nie wieder tun", erklärte Varujan Vosganian.

An diesem Freitag sollte der Prozess über die angeklagten Beamten im Mordfall Hrant Dink endlich ein Ende finden - doch die Familie des Ermordeten rechnet nicht mit einem gerechten Urteil. Die Untersuchung weise gravierende Mängel auf, kritisierte Hakan Bakircioglu, der Anwalt von Hrant Dinks Familie. So seien Verdächtige, gegen die schwerwiegende Vorwürfe erhoben wurden, bei Gerichtsanhörungen nur halbherzig befragt worden. "Gegen das Istanbuler Gouverneursamt und Beamte des türkischen Nachrichtendienstes MIT wurde überhaupt nicht ermittelt", sagte der Anwalt, obwohl diese auch in den Mord an Dink verwickelt gewesen seien.