Herr Meier, Corona, Brexit, Migration: Die Krisen haben Europa erschöpft. Zerfällt es, wie einst das Römische Reich?

MISCHA MEIER: Ich hoffe nicht und ich glaube es auch nicht. In der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt, dass der europäische Gedanke mehr ist als nur eine Formel. Dass gerade die schwierigen Entwicklungen der letzten Monate keinen „Zerfall“ eingeleitet haben, sehe ich als starkes Signal. Die europäischen Institutionen dürften eher gestärkt aus der Krise hervorgehen, und wenn es der Wirtschaft schnell wieder gelingt, Fuß zu fassen, dann werden sich die Vorteile der Union auch für die Bürger materialisieren. Die Situation des spätrömischen Reiches ist damit nicht vergleichbar, zumal wir beim Untergang Roms nicht von einem einzelnen Ereignis sprechen, sondern von einem Prozess, der sich über Jahrhunderte hingezogen hat. Wenn Europa so lange Bestand hätte, wie Rom untergegangen ist, wäre das schon ein gewaltiger Erfolg.

Sie haben intensiv zu Krisen- und Seuchenzeiten in der Antike geforscht. Gibt es grundlegende Verhaltensweisen, die auch jetzt, in der Pandemie, zutage treten?

Es gibt solche Muster. Die Bedeutungszunahme von Experten und das Ringen um ihre Position gehören dazu. Auch Veränderungen im politischen Bereich sind ganz typisch. Machtverhältnisse werden neu verhandelt und ausbalanciert. Wir sprechen aktuell gern davon, dass Bedrohungssituationen die Stunde der Exekutive seien. In der römischen Geschichte dienten Katastrophen nicht zuletzt den Kaisern als Gelegenheiten, sich als mitfühlende, freigebige und umsichtige Krisenmanager zu profilieren. Caligula soll sogar bedauert haben, dass sich unter seiner Herrschaft keine größere Katastrophe ereignete.

Welche Gefahren birgt die Konzentration von Macht in Krisen?

Mit der Zentrierung von Macht ist stets das Risiko verbunden, dass eine spätere Dezentrierung schwierig wird. Aber es ist schwer, pauschale Bewertungen abzugeben. Wir können beobachten, dass im Oströmischen Reich die turbulente Phase im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts auch dadurch überwunden wurde, dass das Kaisertum zu neuer Stärke gefunden hat, seine Machtressourcen konzentriert hat. Aus der Retrospektive hat das erheblich dazu beigetragen, den Bestand des Oströmischen Reiches zu sichern.

Wird die Pandemie letztlich auch unsere Demokratien stärken?

Das kann ich als Althistoriker nur schwer einschätzen. Es wird jedenfalls sichtbar, dass wir uns in der Pandemiebekämpfung im Wettbewerb mit autoritären Systemen befinden, die bemüht sind, nun eine vermeintliche Überlegenheit zu demonstrieren. Da muss man wachsam sein und gegenhalten.

Wie sehr sind die Regierenden in Krisen immer auch Getriebene?

Man hat immer wieder eine Verdichtung politischen Handelns beobachtet, die auch von der Bevölkerung eingefordert worden ist. Während der Justinianischen Pest 541/42 intervenierte der Kaiser persönlich: Er ging gesetzlich und damit sehr demonstrativ gegen pandemiebedingte Preissteigerungen vor und versuchte, durch die Einsetzung eines Sonderbevollmächtigten das Problem der Bestattungen zu regeln. Gleichzeitig musste er zeigen, dass er als von Gott eingesetzter Herrscher weiter in der Gunst Gottes stand, also nicht für das Elend verantwortlich war, das als Strafe Gottes gedeutet wurde.

Wie ist ihm das gelungen?

Er etablierte ein neues Bußfest, in dessen Zentrum eine öffentliche, die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt Konstantinopel umfassende Bittprozession stand, an deren Spitze er sich demonstrativ selbst stellte. Dass sich politische und gesellschaftliche Machtverhältnisse neu ausrichten, ist ein charakteristisches Element einer bedrohten Ordnung, ganz so wie ein sich verstärkender Diskurs über Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten. Im Fall der Pest-Prozession materialisiert sich dieser Diskurs sehr deutlich und zeigt, wie versucht wurde, identitätsstiftende, integrative Momente zu schaffen.

Ist das in Zeiten der Not nicht ein ganz natürlicher Reflex?

Ich würde nicht von einem natürlichen Reflex sprechen, sondern von einem sehr häufig zu beobachtenden Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse, die in Situationen existenziellen Stresses eine neue Qualität gewinnen. Es ist jedenfalls auffällig, dass in den Jahren um 500, also kurz nach Zusammenbruch des Kaisertums im römischen Westen, im Osten eine Debatte darüber einsetzt, wer und was eigentlich römisch ist. Diese Debatte geht einher mit einer territorialen Neubestimmung des Restreiches, das seine Grenzen neu befestigt und damit auch akzeptiert. Ein Jahrhundert später kann man dann beobachten, wie in einer noch dramatischeren Bedrohungssituation Religion zu einem maßgeblichen Kriterium von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit aufsteigt: Das Kaiserreich erscheint jetzt als sakraler Raum, der unter göttlichem Schutz steht.

Ist existenzieller Stress auch der Grund für die gegenwärtige Identitätsdebatte in Europa?

Nein, das würde ich nicht so sehen. Ich würde auch prinzipiell davor warnen, Beobachtungen, die wir in der Geschichte machen, auf die Gegenwart zu übertragen. Dafür sind die Rahmenbedingungen, unter denen sich historische Prozesse vollziehen, schlicht zu unterschiedlich.

Sie verstehen aber, dass es verlockend ist, aus der Vergangenheit die Gegenwart deuten zu wollen?

In Krisenzeiten entwickeln sich ganz spezifische Formen des Argumentierens: Man bemüht gern die Vergangenheit und richtet den Blick auf die Zukunft. Dabei bilden sich neue Narrative aus oder bestehende werden verändert. Ein Beispiel aus der Pestepidemie, die 590 in Rom herrschte: Der designierte Papst Gregor, der zuvor längere Zeit als päpstlicher Gesandter in Konstantinopel gelebt hatte, kopierte die Pestprozession Justinians aus dem Jahr 542 und veranstaltete Ähnliches in Rom. Das war ein gezielter Rückgriff auf die Vergangenheit, der dem Narrativ folgte, dass man in Konstantinopel die Seuche durch die Abhaltung der Prozession überwunden habe. Damit vermittelte Gregor auch den Römern 590 eine Zukunftsperspektive, nämlich, dass die Bedrohung durch Anwendung der richtigen Mittel besiegt werden könne. Eine spezifische Sicht auf die Vergangenheit und die Zukunft wird hier eng aufeinander bezogen.

Aus der Pest von 1348 heraus lassen sich zwar keine Prognosen für die Zukunft treffen, aber kann daraus Lehren für die Gegenwart ziehen?

Historiker sind eher zurückhaltend, wenn es um die Frage geht, ob man aus der Vergangenheit lernen könne, denn historisches Geschehen ist stets hochkomplex und wiederholt sich nicht einfach. Was man aber sieht, sind ähnliche Muster der Bewältigung: Im Fall der Großen Pest von 1348 sind das die  Einbindung von Experten und die Diskussion über die Valenz ihrer Aussagen, das massive Eingreifen der Obrigkeiten über die Verhängung von Einreiseverboten und Quarantänemaßnahmen, die Ressourcenmobilisierung und Neuverhandlung von Machtverhältnissen und dann natürlich die sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer Pandemie. 

In der aktuellen Pandemie spielt Religion überhaupt keine Rolle mehr. Warum ist das so?

Ich glaube, dass die Bereitstellung von Orientierungshilfen durch die Religion in andere Bereiche übergegangen sind. Wenn man sieht, wie aktuell dazu aufgerufen wird, der Wissenschaft zu folgen, wird das recht deutlich. Ich bin selbst Wissenschaftler. Aber ich würde nie davon sprechen, dass die Wissenschaft etwas sagt oder vorgibt. Wissenschaft ist immer Diskurs und Debatte, und sie zeichnet sich dadurch aus, dass es keine Eindeutigkeiten gibt, sondern alles zur Diskussion steht und immer wieder neu durchdacht werden muss. Nur so entsteht wissenschaftlicher Fortschritt. Wenn aber nun stets auf „die“ Wissenschaft verwiesen wird, dann scheint mir hier eine Funktion von Religion sichtbar zu werden.

Die Große Pest von 1348 war eine Zäsur für die Menschheit. Warum?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Allein die demographische Zäsur - das Massensterben - war ein wichtiger Faktor. Die vielfältigen Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Seuche beschlossen, organisiert und durchgeführt werden mussten, haben zudem einen Schub an staatlicher Verdichtung nach sich gezogen. Handelsrouten haben sich verändert, die daran hängenden Netzwerke beeinflusst und damit - über das Pestgeschehen hinaus - noch weitere soziale Veränderungen hervorgerufen. Und auch mentalitätsgeschichtlich, das heißt mit Blick auf die Wahrnehmung der eigenen Welt durch die Zeitgenossen, bedeutete der Schwarze Tod einen wichtigen Einschnitt.

Wird Corona als ähnlicher Einschnitt in die Geschichte eingehen?

Ich denke, die Coronapandemie wird in verschiedener Hinsicht Zäsurcharakter haben. Das liegt schon daran, dass historische Erfahrungen zeigen, dass vergleichbare Situationen nie in eine vollkommene Wiederherstellung der alten Ordnung gemündet sind. Es gibt also empirische Werte, die stark dafürsprechen, dass wir gerade einen Einschnitt erleben. Wie dieser letztlich aussehen wird, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass wir zumindest in Europa weitgehend vor einem neuen Verständnis von Rolle und Aufgabe des Staates stehen. Auch das Verhältnis zentraler Werte wie Freiheit und Sicherheit scheint sich neu einzupendeln. Über die ökonomischen Folgen kann ich nur spekulieren, da wird man vermutlich abwarten müssen. Aber ich bin ganz sicher, dass ähnlich wie beim Schwarzen Tod auf längere Sicht ein später einmal mentalitätsgeschichtlich fassbarer Wandel eintreten wird: Auch unsere Sicht auf unsere eigene Welt verändert sich gerade.

© (c) Friedhelm Albrecht, Universität Tübingen