Ein Gerichtsurteil hat Georgien vor zwei Wochen zurück in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erteilte Russland eine Rüge wegen der Misshandlung von georgischen Kriegsgefangenen im Jahr 2008. Demnach habe die russische Armee Plündereien, Brandschatzungen, Misshandlungen und Folter durch südossetische Kräfte zugelassen.

Georgien hat damit gut zwölf Jahre nach dem Südkaukasuskrieg um die abtrünnigen Teilrepubliken Südossetien und Abchasien gegen das Nachbarland auf dem juristischen Weg Gerechtigkeit erfahren. Salome Surabischwili, das erste weibliche Oberhaupt des Kaukasusstaates, bezeichnet das Urteil als „späten Sieg“.

Der Konflikt wirkt nach

Das Urteil zeigt aber auch, wie emotional die Folgen des Konflikts das Land belasten. Georgien blickt spätestens seit der Rosenrevolution 2003 sehnsüchtig Richtung Westen, hat einen klaren Kurs Richtung EU und Nato eingeschlagen, der durch den Krieg 2008 noch einmal verstärkt wurde. Dem Besucher der Kaukasusrepublik springt das schon kurz nach der Ankunft auf dem internationalen Flughafen in der Hauptstadt Tiflis ins Auge. Es gibt wenige Flecken auf der Welt, wo George W. Bush einen so guten Ruf genießt, dass die Ausfallstraße seinen Namen trägt. Auf dem Weg in die imposante und liebevoll hergerichtete Altstadt von Tiflis, das auf Georgisch Tbilisi heißt, ist das so.

In Tiflis spürt man den Aufbruch an jeder Ecke, aber auch die sich langsam ausbreitende Enttäuschung. Denn nach drei Jahrzehnten des Wartens werden Regierung und Bevölkerung pragmatischer, weil die Annäherung zur EU schleppend verläuft, obwohl man – so jedenfalls die eigene Lesart – doch schon so viel erreicht hat. Zwar wertete die EU Georgien infolge des Krieges mit der Teilnahme an der Östlichen Partnerschaft auf und adelte das Land 2014 mit der Mitgliedschaft in der Vertieften und umfassenden Freihandelszone, dennoch erstarkte die russlandorientierte Partei. Gleichzeitig gingen vor der Wahl im Oktober 2020 vor allem junge Leute auf die Straße und forderten die Abschaffung der Direktmandate, weil sie eine schleichende Russifizierung durch die machthabenden Politiker befürchteten.

Heimat der zwölfjährigen Tina

Die Diskussion um den Zustand der Schule der abgeschobenen zwölfjährigen Tina in ihr Herkunftsland hat den Zustand Georgiens nun ein zweites Mal in den Blickpunkt gerückt und die Frage aufgeworfen, in welchen Verhältnissen das Mädchen möglicherweise leben muss. Eine Reportage des Senders Servus TV zeigte am Donnerstag ein im Dezember renoviertes modernes Schulhaus. Das zunächst medial verbreitete Foto, das ein komplett verfallenes Gebäude darstellen sollte, ist demnach nur ein Nebenbau, der in der Schule als Lager genutzt wird.

Georgiens Botschafterin in Wien, Ketevan Tsikhelashvili, fühlte sich nach Medienberichten in Österreich veranlasst, das schlechte Bild ihres Landes zurechtzurücken. Doch wer das Tiflis Richtung Kaukasus, Schwarzes Meer oder vor allem Richtung Armenien und Südossetien verlässt, bekommt ein Land voller unerfüllter Versprechen zu Gesicht.
Atemberaubende Bergzüge und tiefe Wälder kreisen Dörfer ein, die einer Kulisse eines mittelalterlichen Mantel- und Degenfilms entsprungen scheinen. „Grundsätzlich besteht für uns die größte Herausforderung derzeit darin, dass unsere Wirtschaft sehr schwach ist“, begründet die Politikerin Tamar Tschugoschwili dem Politikportal „Euractiv“ die zögerliche Erweiterungsmüdigkeit der EU über das Schwarze Meer hinaus. „Trotz des Wachstums haben wir eine sehr begrenzte Wirtschaftskraft, und wir haben sehr viel Armut im Land.“

Kleinteilige Landwirtschaft

So gibt es nur einen minimalen Anteil an Großbauern. Es lebt zwar jeder zweite der 3,7 Millionen Georgier von selbst produzierten Lebensmitteln, doch der landwirtschaftliche Sektor macht nur rund neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Deshalb ist die Einfuhr von Nahrungsmitteln auch fast dreimal so hoch wie die Ausfuhr. Diese Kleinteiligkeit ist ein Resultat der Vergangenheit. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte Georgien einen Neuanfang. Kollektivwirtschaft wie in den Kolchosen zu Sowjetzeiten war außer Mode. Man orientierte sich am Westen, wollte als erste Unionsrepublik unter dem Nationalisten Gamsachurdia weg aus der UdSSR, stürzte in einen Bürgerkrieg mit Gebietsabspaltungen und inneren Unruhen in den abtrünnigen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien, die 2008 im Krieg mündeten.

Die Sicherheitslage im Südkaukasus erschwert die Entwicklung von Voraussetzungen für ein selbsttragendes Wachstum und eine soziale Wohlfahrt in Georgien ebenso wie bei den Nachbarn Armenien und Aserbaidschan, hat die Friedrich-Ebert-Stiftung festgestellt. Die Region genießt eine geostrategische Rolle. Als Teil der Sowjetunion waren die drei Länder bis zur Unabhängigkeit von Transferleistungen abhängig, deren Wegfall nie kompensiert werden konnte, weder im öl- und gasreichen Aserbaidschan noch in Georgien oder Armenien, die beide kaum über Rohstoffe verfügen, betonen Experten der SPD-nahen Stiftung.

Massive Abwanderung

Und so machen sich seit drei Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Strom Georgier auf den Weg ins Ausland. Auf der Suche nach einem besseren Leben. Seit der Unabhängigkeit haben mehr als eine Million Menschen das Land verlassen und Georgien damit ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Doch die Menschen gehen nicht nur in den Westen, in Moskau etwa lebt die größte Gemeinschaft jenseits der Grenze.

Als „Balkon Europas“ wird Georgien bezeichnet, auch weil der Kaukasus viele Touristen ins Hochgebirge zieht. Doch die Verlockungen für die Georgier selbst scheint hinter den Bergen größer. Tatsächlich wird aber nahezu keinem Antragstellenden in der EU Asyl gewährt. Georgien gilt als sicheres Herkunftsland und die Zusammenarbeit bei der Abschiebung funktioniert. Seit Jahren wird zwischen Tiflis und Brüssel über eine „zirkuläre Migration“ verhandelt, also einen Zeitraum, um in der EU zu arbeiten.

Mit Kleinkooperativen unterstützen EU und Österreichs Entwicklungsagentur ADA den Aufbau von wirtschaftlich rentablen Agrarbetrieben. Care Österreich ist bei der praktischen Umsetzung eingebunden. Für die Farmerin Nino Kvirkvelia war das ein Grund zu bleiben. Sie wechselte von ihrem Posten bei einer Bank ins eigene Erdbeergeschäft, erzählte sie bei einem Besuch der Kleinen Zeitung 2017. Sie wolle bleiben und blieb – bis heute. Doch auch sie hegt große Hoffnungen gegenüber der EU, damit noch mehr Menschen gehalten und flächendeckende Armut überwunden werden kann: „Durch einen großen wirtschaftlichen Markt und mehr Unterstützung und Jobchancen.“