Die Proteste an der Boğaziçi Üniversitesi in Istanbul, der Bosporus-Universität, spitzen sich zu. Erneut kam es zu Ausschreitungen, 159 Demonstranten seien verhaftet worden, weil sie „die Demonstrationen vor der Universität trotz Warnungen nicht beendet hatten“, teilte das Büro des Gouverneurs von Istanbul mit. 99 kamen aber wieder frei, sagte Anwalt Gökhan Soysal, der einen Teil der Studierenden vertritt, der Deutschen Presse-Agentur. Zwei seiner Mandanten mussten sofort in ein Krankenhaus, weil sie von den Sicherheitskräften mit Stöcken geschlagen wurden.

Die Studierenden der Bogazici-Universität protestieren seit Anfang Jänner gegen den von Präsident Recep Tayyip Erdogan eingesetzten neuen Direktor Melih Bulu. Die Proteste gingen auch am Dienstag weiter: Die angehenden Akademiker stellten sich auf dem Campus mit dem Rücken zum Direktorat aufgefädelt hin und hielten Schilder mit der Aufschrift 159 - also die Zahl der Verhafteten - hoch, wie auf Videos zu sehen war. Studierende forderten in Sprechchören den Rücktritt Bulus.

Die Studierenden anerkennen Bulu nicht als ihren Rektor
Die Studierenden anerkennen Bulu nicht als ihren Rektor © AP

Weil Präsident Recep Tayyip Erdogan einen Parteikollegen zum Rektor der Universität in Istanbul ernannte, gibt es seit Wochen wütende Proteste. Die Bosporus-Universität ist zwar eine staatliche Hochschule, galt aber immer als eine Bastion der Autonomie. Der Rektor war bisher immer aus der Mitte der Dozenten gewählt worden - mit dieser Tradition hat Präsident Erdogan jetzt gebrochen und jemanden aus seinen Reihen und von außen geholt.

Der neue 50-jährige Rektor Melih Bulu habe außerdem wenig vorzuweisen, monieren Kritiker. Vor Jahren habe der 1970 Geborene versucht für die Regierungspartei AKP ins Parlament zu kommen, was nicht funktioniert habe. Außerdem sei er mit Plagiatsvorwürfe konfrontiert, sowohl seine Magister- als auch seine Doktorarbeit soll er abgeschrieben haben.

1992 schloss Melih Bulu sein Studium in Wirtschaftsingenieurswesen an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara ab. Später machte er seinen Master an der Bosporus-Universität in Finanzwesen und machte dort in dem Fach auch seinen Doktor im Bereich Management und Organisation. Bulu selbst wies die Plagiats-Vorwürfe als Verleumdung zurück, gestand aber gleichzeitig ein, dass in seiner Arbeit manchmal Anführungszeichen fehlen würden. Die jeweiligen Quellen, aus denen er die Informationen für seine Texte genommen habe, seien am Ende der Texte ohnehin ausgewiesen.

Etwas holprig und unbeholfen klang es auch, als sich Bulu versöhnlich an die Studierenden wandte, als der Protest gegen ihn immer lauter wurde: Bulu erklärte, er wolle die Kultur der Universität nicht ändern. Und er fügte hinzu, er höre sogar die Band Metallica. Hierauf reagierten die Studierenden allerdings höhnisch und sie spielten als Protest in der Nähe des Rektorats die Songs "Masters of Puppets" und "Sad But True" ab. Später veröffentlichten Studierende außerdem eine Coverversion von "For Whom the Bell Tolls" in dem sie Bulus Rücktritt fordern.

Einlenken nicht zu erwarten

Ein Einlenken der Regierung ist allerdings auch nicht zu erwarten. Denn in Ankara wolle niemand, dass sich an den Uni-Protesten etwas entzünden könnte. Niemand wolle Proteste, die Funken schlagen und zu einem landesweiten Aufruhr werden könnten, wie vor mehr als sieben Jahren bei den Demonstrationen gegen die Bebauung des Gezi-Parks, erklärt uns ein Istanbuler Polit-Experte, der namentlich nicht genannt werden möchte. Warum er anonym bleiben will: "In der Türkei hat mittlerweile jeder einen Preis zu zahlen, wenn er Kritik an der Regierung übt."

Für Präsident Erdogan sind die protestierenden Studierenden "Terroristen"
Für Präsident Erdogan sind die protestierenden Studierenden "Terroristen" © AP

"Lebenszeichen der türkischen Demokratie"

Präsident Erdogan sei allerdings spätestens seit dem Erdrutschsieg des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu bei der Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul auch bemerkenswert nervös.  Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak erklärte uns damals, das sei „ein wichtiges Lebenszeichen der türkischen Demokratie“ gewesen. Für sie ist der türkische Präsident seit damals angezählt.

Die türkische Exil-Autorin Elif Shafak lebt mit ihrer Familie in London
Die türkische Exil-Autorin Elif Shafak lebt mit ihrer Familie in London © APA/DANIELA MATEJSCHEK

Im Interview mit der Kleinen Zeitung erklärte Elif Shafak 2019: „Ich hatte über die Massaker an den Armeniern 1915 geschrieben und wurde deswegen vor Gericht gestellt. Mein Anwalt hatte die Aussagen meiner fiktiven armenischen Romanfigur zu verteidigen, die gegen mich als Autorin verwendet wurden. Eine kafkaeske Erfahrung. Eines ist klar: Jeder Journalist, jede Schriftstellerin in der Türkei weiß, dass Worte mächtig und gefährlich sind, dass man für sie angeklagt werden kann. Das führt zu sehr viel Angst.“

Eine liberale Universität

Die Bogazici-Universität blickt auf eine lange Vergangenheit zurück. Sie wurde 1863 unter dem Namen Robert College als erste amerikanische Universität außerhalb der USA gegründet. 1971 wurde sie nach dem Bosporus-Fluss umbenannt, an dem sie - im europäischen Teil Istanbuls - liegt.