Teile der Muslimbruderschaft gelten als radikal, wenn auch nicht alle. Wieso hat sich die Muslimbruderschaft Österreich überhaupt als Rückzugsort ausgesucht?

PETRA RAMSAUER Das war Zufall. Ende der 50er Jahren gab es unter Präsident Gamal Abdel Nasser in Ägypten massive Razzien gegen die Muslimbruderschaft, so wie heute unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Die Mitglieder gingen scharenweise ins Gefängnis. Auch Youssef Nada, Begründer der Muslimbrüder in Europa, kam als junger Mann in Haft. Als er nach einem Jahr freikam, wurde er von seiner besorgten und reichen Molkereifamilie nach Graz geschickt, wohin sie ihren Schafskäse exportierte. Er hat die Muslimbruderschaft in Österreich aufgebaut, die mit einer Gruppe in Genf um Said Ramdan – Schwiegersohn des Muslimbrudergründers Hasan al-Banna und Vater des Vordenkers eines europäischen Islams Tarik Ramadan – sowie eine Achse in München ein Dreieck bildete.

Und weiter?

RAMSAUER Der zweite Schub Richtung Österreich kam ebenfalls zufällig im Bosnien-Krieg. Graz war auf Grund der geografischen Nähe zu den noch vorhandenen radikalen Gruppen in Bosnien idealer Standort. Der Arzt Ayman Ali hat von Graz aus, ein humanitäres Projekt für Kriegsopfer in Bosnien organisiert. Ali wurde später Sprecher vom Muslimbruder und ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi. Nada ging später als wohlhabender Geschäftsmann mit großem Netzwerk in die Schweiz. Da war der Boden durch Nadas Kontakte in Österreich schon aufbereitet. Ayman Ali war dann auch Präsident der islamischen Vereine für ganz Europa und diese Föderation wurde die europäische Muslimbruderschaft.

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Der Basis in Österreich war also gut vorbereitet.

RAMSAUER Gerade in den 80iger Jahre kamen viele Gruppen wie Abu Nidal nach Österreich. Das Bankgeheimnis hat es ihnen leicht gemacht, die Notgroschen hier zu sammeln. Wobei das Dreieck um Graz, Genf und München nie zu einem Islamischen Staat werden sollte. Ein Aussteiger hat mir erklärt, dass man in Europa einfach Unternehmen geführt hat, um Geld zu haben und die Organisation am Laufen zu halten. Allerdings hat man auch versucht, an die Spitze der meinungsbildenden Prozesse zu gelangen.

Geheimhaltung und Schweigen, selbst zwischen den einzelnen Gruppen, ist ein wichtiges Merkmal der Muslimbruderschaft. Warum gelingt es Geheimdiensten nicht, V-Leute einzuschleusen?

RAMSAUER Die Muslimbrüder funktionieren völlig anders als etwa der IS, praktisch entgegengesetzt. Es gibt einen jahrelangen Aufnahmeprozess, man kann nicht einfach beitreten. Die Zellen sind wie Familienstrukturen. Da trifft man sich einmal in der Woche und erzählt sich alle Geheimnisse des Lebens. Man ist dann Teil einer familiären Community, die sehr engmaschig gestrickt ist. Es sind auch die Frauen stark vertreten. 50 Prozent der ägyptischen Muslimbruderschaft besteht aus Schwestern. Da niemand von sich behauptet, Muslimbruder zu sein, ist es schwierig einen Eingang zu finden. Wer nur in die Nähe gerückt wird, klagt dagegen. Deshalb ist es für Journalisten so schwierig Informationen zu bekommen, weil jeder mit Klagen überzogen wird. Es gibt auch keine Mitgliedslisten. Deshalb sind solche Operationen wie in Wien auch so wichtig, um endlich einmal belastbares Datenmaterial zu haben.

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Muslimbrüder verfügen über viel Geld. Woher kommt das?

RAMSAUER Die Gemeinschaft ist sehr wohlhabend. Muhammad Chaira Al-Shater, der ursprünglich anstelle von Mursi als Präsident vorgesehen war, ist einer der reichsten Männer Ägyptens. Die Muslimbrüder müssen ein Teil ihres Vermögens in die gemeinsame Kasse abliefern. Die Muslimbruderschaft versucht in ihren Herkunftsländern Herz und Kopf zu gewinnen. Sie hat in Ägypten Spitäler finanziert, in armen Vierteln Medikamente verteilt. Die Muslimbruderschaft versteht sich als eine Gruppe, die den perfekten Islam lebt. Sie zeigt, wie der perfekte Muslim leben soll. Also den Armen helfen und dabei alle Gebote achtet. Sie verkörpert damit induktiv das siegreiche Modell des Islam, in dem Wohlstand herrscht.

Das klingt friedlich.

RAMSAUER Es schwingt in der Muslimbruderschaft immer die Frage mit, ob wir das Ziel auch mit Waffengewalt erreichen wollen. Mehrheitlich gibt es ein Nein in der großen Gruppe. Es ist kein Wunder, dass sich der spätere Al-Kaida-Führer Ayman al-Zawahiri 1970 abgespalten hat, als die Kooperation der Muslimbrüder mit dem Staat unter Präsident Anwar as-Sadat begonnen hat, und dann den islamischen Dschihad gegründet hat. Er ist heute ein erbitterter Gegner der Muslimbruderschaft. Strukturell ist also ein großer Unterschied, ob man von der Muslimbruderschaft, Al-Kaida oder dem IS spricht. Es sind drei Organisationen, die sich hassen. Real bereiten aber alle drei dieses Grundgefühl auf, die Scharia und der Islamische Staat seien das perfekte vorzuziehende Lebensmodell. Auch wenn die Muslimbruderschaft bei uns nicht terroristisch aktiv ist, darf man nicht unterschätzen, wie sie den Boden dafür verankern.