"Wo ein Gast ist, da ist Gott“, sagen die Armenier. Rico lacht. Der Fünfjährige führt uns ins Haus und setzt sich zu uns auf die zerschlissene Bettbank. Seine Mama in Jogginghose trägt seinen Bruder, der noch kein Jahr alt ist, wiegt ihn, damit er ruhig bleibt, beim Gespräch mit den Gästen. Immer schon habe sie hier in Berd gelebt, in diesem kleinen Dorf im Tawusch-Gebirge, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Aserbaidschan entfernt, wo Scharfschützen ihren Namen zu Recht tragen.

Seit 100 Jahren bildet Bergkarabach einen Konfliktherd zwischen Armenien und Aserbaidschan. 1920 wurde die mehrheitlich von christlichen Armeniern besiedelte Region zu einem autonomen Gebiet innerhalb der von muslimischen Aseris dominierten Aserbaidschanischen Sowjetrepublik.

1991 erklärten Armenien und Aserbaidschan ihre Unabhängigkeit. Kurz darauf machte sich auch Bergkarabach selbstständig. 1992 kam es zum offenen Krieg zwischen armenischen und aserbaidschanischen Freischärlern, in den 1993 die armenische Armee eingriff. Nach 40.000 Toten und einer Million Vertriebenen wurde 1994 ein Waffenstillstand vereinbart. Doch Frieden herrscht bis heute nicht.

Rico, Mama, Papa, kleiner Bruder, Oma und Opa wohnen zusammen in diesem kleinen, finsteren, zugigen Haus an der Grenze. Wo andere eine Terrasse haben, wühlen Hühner in der Erde und picken Würmer auf. Seit einigen Jahren wird die Familie im Zuge der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit unterstützt.

Der kleine Rico wird psychologisch betreut, er war „auffällig“ geworden. Ständige Schießereien in der Region, stets präsentes Militär, keine Arbeit für die Männer, die vielfach in Depressionen verfielen: „Das alles ist für ein Kind nicht leicht zu verkraften“, sagt David Avanesjan, der hier die Hilfe koordiniert. Ricos Familie bekam auch Geräte und Werkzeug, damit der Boden bestellt werden kann. Der Vater baut nun selbst ein bisschen Gemüse an, kann besser für die Familie sorgen, er ist arm, aber er war schon ärmer. „Wir wollen möglichst vielen direkt helfen, damit sie eine Perspektive vor Ort haben.

Wiege des Christentums

Das bergige Land im Südkaukasus gilt als Wiege des Christentums. Es war Armenien, das vor gut 1700 Jahren als erstes Land das Christentum zur Staatsreligion erhob. Zwischen 1915 und 1917 wurde dieses Volk aber fast ausgelöscht. Während des Ersten Weltkriegs beschloss die nationalistische jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches, die christliche armenische Bevölkerung aus ihren Siedlungsgebieten in Anatolien deportieren zu lassen, sie zu massakrieren, massenweise zu töten oder sie auf Todesmärsche durch die syrische Wüste zu schicken. 1,5 Millionen Armenier starben dabei.
Die Nationalsozialisten bewunderten die Jungtürken.

Mit 30.000 Quadratkilometern ist Armenien etwa so groß wie Belgien. Das christliche Land ist umgeben von islamisch geprägten Staaten. Die Kriege der Vergangenheit waren auch religiös bedingt, sie belasten bis heute die Beziehungen zu den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei. Die Grenzen zu diesen Nachbarn sind geschlossen.

Nur über die schmale Grenze zum Iran und über Georgien kann Armenien hinaus in die Welt und Handel treiben. Auch die Folgen des schweren Erdbebens von Spitak im Jahr 1988 mit Zehntausenden Toten lasten auf dem Gemüt der Menschen in dem armen Land, das nur wenige Rohstoffe hat.

Mehr als sieben Millionen Armenier leben im Ausland, in der Diaspora. Wer kann, unterstützt die ausgeblutete Heimat in Vorderasien, wie einst Charles Aznavour. Fast jeder Diaspora-Armenier hat ein Bild des Ararat im Haus. Der Berg, an dem die Arche Noah nach der Flut gestrandet sein soll, ist das Nationalsymbol, das allerdings in der Türkei liegt. Von armenischer Seite lässt sich der Berg, den sich einst die Osmanen schnappten, nicht besteigen.