Kann Donald Trump die Präsidentschaftswahlen im November noch gewinnen? Keine andere Frage sorgt derzeit für mehr Diskussionsstoff unter innenpolitischen Analysten und Kommentatoren in den USA. Denkt man an die anhaltende Coronavirus-Pandemie, die mehr als 135.000 Amerikaner bereits das Leben gekostet hat, gepaart mit der höchsten Arbeitslosigkeit seit den 1930er-Jahren, sowie den größten Protesten und Unruhen seit 1968, alles verstärkt durch das inkompetenteste Krisenmanagement eines amerikanischen Präsidenten seit James Buchanan, der die USA 1861 in den Bürgerkrieg schlittern ließ, scheint die Frage nur rhetorischer Natur zu sein.

Selbstverständlich, so der Glaube, kann jemand, der in einer der schlimmsten nationalen Krisen des Landes so kläglich versagte nicht wiedergewählt werden. Traum (zumindest für Trumps Gegner) und Wirklichkeit klaffen hier aber auseinander. Donald Trump hat sehr wohl noch Chancen auf die Wiederwahl, obwohl der Kandidat der Demokraten, der ehemalige Vizepräsident, Joe Biden, die Umfragen seit Wochen anführt.

Swing States

Erstens: Es stimmt, dass Trump in den nationalen Umfragen weit hinter Biden liegt. Laut mehreren Erhebungen der letzten zweieinhalb Monate liegt der Demokrat im nationalen Durchschnitt 10 Prozentpunkte vor Trump. Andere Umfragen zeigen seit Wochen einen ähnlichen Trend. Zum Vergleich, 2008 hatte Barack Obama sieben Prozentpunkte Vorsprung auf seinen republikanischen Rivalen, John McCain. Die Wahl wurde ein Erdrutschsieg der Demokraten, die nicht nur ins Weiße Haus einzogen, sondern auch die Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses gewannen. Biden führt auch, laut Umfragen, im zweistelligen Bereich in den wichtigsten “Swing States” - Pennsylvania, Michigan, Ohio, Wisconsin. Doch die Wahl findet nicht diese Woche, sondern in vier Monaten statt.
Hillary Clinton lag 2016 zur gleichen Zeit in diesen Staaten vor Trump, freilich nur im einstelligen Bereich, dennoch konnte er letztlich alle vier für sich gewinnen. Clinton lag auch laut Umfragen bis zum Wahltag durchschnittlich um 3.2 Prozentpunkte vor Trump und erhielt am Wahltag selbst 2.3 Prozentpunkte mehr an direkten Wählerstimmen, doch Trump gewann das Wahlkollegium und damit die Präsidentschaft.

Zweitens: Biden liegt auch im Wahlkollegium vor Trump. Laut NPR-Umfrage vom Juni hat Biden dort 238, Trump 186 Stimmen. Um die Wahl zu gewinnen, braucht man jedoch 270 Stimmen. Im Moment gelten 114 Stimmen in Bundesstaaten wie zum Beispiel Arizona, Florida, Nevada, New Hampshire, und Pennsylvania als noch nicht vergeben. Gleichzeitig gelten zusätzliche 53 Stimmen der „Wahlmänner“ auf demokratischer Seite und 61 Stimmen auf republikanischer Seite als in die Parteirichtung „tendierend“, ohne jedoch sich fix für eine Partei auszusprechen. Mit anderen Worten, bis dato haben weder Biden noch Trump im Wahlkollegium, welches den Präsidenten kürt, eine klare Mehrheit. Gleichzeitig hält sich der Enthusiasmus für Joe Biden nach wie vor in Grenzen. Er ist und bleibt der schwächste demokratische Präsidentschaftskandidat seit Michael Dukakis 1988. Man darf nicht vergessen: In demokratischen Vorwahlen in New Hampshire gewann er mit 15.8 Prozent der Stimmen nur den vierten Platz, in Hampshire schaffte er mit 8.4 Prozent nur den fünften. Ob die “Jeder-Kandidat-ist-besser als-Trump” Strategie der Demokraten aufgeht, bleibt also abzuwarten.

Der heißte Herbst kommt noch

Drittens: Wir stehen erst am Anfang des eigentlichen Wahlkampfes. Viel kann noch passieren. Trump versteht es geschickt, seine Gegner bloß zu stellen und sie als „unamerikanisch“ und Teil der verhassten Elite darzustellen, die die Grundrechte der Durchschnittsamerikaner mit Korrektheitskampagnen beschneiden wollen. Mit Biden funktioniert das bis jetzt sehr schwer. So ist Biden zum Beispiel kein Unterstützer der radikaleren Auswüchse der Identitätspolitik, gegen die Trump und seine Anhänger wettern um einen Kulturkampf anzuzetteln. Obwohl er der progressivste Kandidat in der Geschichte der Demokratischen Partei ist, zielt seine Politik nach wie vor auf die Mitte der Gesellschaft.
Sollte Biden jedoch, wie erwartet, eine farbige Frau als Vizepräsidentschaftskandidatin wählen, würde dies Trump sofort als Projektionsfläche für die Urängste vieler Moderaten und Rechten in Bezug auf die Identitätspolitik nützen.  Dadurch könnte Trump zusätzliche Wähler mobilisieren. Auch bleiben die Debatten im Herbst abzuwarten.

Biden hat in den Debatten der Demokraten mit seinen vielen Versprechern wenig geglänzt, wirkte plastisch, müde, und zeigte kaum Angriffslust. Er wirkte wie ein Relikt aus vergangenen politischen Zeiten. Trump 2016 hingegen brachte Clinton durch aggressive Konter immer wieder in die Defensive und zerstörte langfristig die politische Reputation seiner republikanischer Kontrahenten durch untergriffige persönliche Angriffe.

Als Reality TV Star wird Trump die Inszenierung auf dem Bildschirm wohl besser gelingen. Im Zeitalter des Coronavirus und in einem Wahlkampf, der geprägt ist von physischer Isolation, ist das wohl kein Nachteil.