Das Rathaus von Perpignan, ein stattliches Gebäude aus dem 12. Jahrhundert, hat etwas von einer Festung. An seiner Fassade flattert eine riesige Trikolore, darunter, deutlich kleiner, die Europafahne und die Senyera, die gelb-rot-gestreifte Flagge Kataloniens. Perpignan, 120.000 Einwohner, liegt im südfranzösischen Roussillon und ist die Stadt, die mit am weitesten von Paris entfernt ist. Mehr Peripherie geht nicht. Es sind nur 50 Kilometer bis zur spanischen Grenze. 

An diesem Sonntag aber, der zweiten Runde der Kommunalwahlen, richten sich alle Augen auf das Hôtel de Ville von Perpignan. Wenn Louis Aliot von Marine Le Pens „Rassemblement National“ (RN) (zu Deutsch: Nationale Versammlung) die Bürgermeisterwahlen gewinnen sollte, und alles deutet darauf hin, hätte das Symbolwert für ganz Frankreich. Viele fragen sich jetzt: Kann die Festung halten oder wird die republikanische Front, wie sie den parteiübergreifenden Zusammenhalt gegen die Rechtspopulisten seit Jahrzehnten in Frankreich nennen, lautstark zusammenbrechen? Wird Aliot die südfranzösische Stadt Perpignan zum Schaufenster des gediegenen Rechtsextremismus machen? Vor allem: Wird, was in Perpignan geht, auch landesweit möglich sein und ist alles nur ein Vorspiel für die nächste Präsidentschaftswahl?

Das Rathaus in Perpignan
Das Rathaus in Perpignan © AFP

„Perpignan ist eine merkwürdige Stadt“, sagt Louis Aliot, der ganz offensichtlich gelernt hat, sie und ihre Bewohner zu nehmen, wie sie sind. Beim ersten Wahlgang im März, die Corona-Krise war im vollen Gang, erhielt Aliot 35,7 Prozent der Stimmen, fast doppelt so viel wie der derzeit amtierende Bürgermeister Jean-Marc Pujol von den Konservativen. 

Stillhalten und keine Fehler machen

Der 50-jährige Aliot musste gar nicht viel tun, um Favorit der Wahl zu sein, er musste nur stillhalten und keine Fehler machen. Alle anderen haben sich gegenseitig Beine gestellt. Eitelkeit, Verrat, Dissidenz und vor allem die mehr als magere Bilanz des amtierenden Bürgermeisters Pujol haben dafür gesorgt, dass es zu einer Wiederholung des Duells von 2014 kommt. Pujol gegen Aliot. Aliot gegen Pujol. Mit einem entscheidenden Unterschied. „Damals waren sie gegen mich, jetzt sind sie gegen Pujol“, sagt Aliot und klopft auf Holz. „Meine Wahl hieße, dass wir überall gewinnen können. Es genügt, die richtige Person ins Rennen zu schicken.“

Aliot sitzt auf einem Ledersessel in einem ehemaligen Adelspalast im Zentrum von Perpignan. Die Decken sind hoch, das Parkett knirscht, an der Wand hängen Ölgemälde von Karfreitagsprozessionen mit Capuchones, Büßern mit roten Spitzhauben und Kutten, wie man sie bei auch in Perpignan in der Osterwoche sehen kann. Nichts deutet in Aliots Wahlkampfquartier darauf hin, dass er für den RN kandidiert. Es ist ein Rezept, das bei den diesjährigen Kommunalwahlen viele Lokalpolitiker in Frankreich angewandt haben: Bloß nicht auf dem Ticket der Partei fahren. Seit Emmanuel Macron mit seiner Wahl 2017 die französische Parteienlandschaft in einen Friedhof verwandelt hat, hält man sich fern von Parteisigeln- und programmen, als brächten sie großes Unglück über jede Wahl.

In Aliots Fall ist das besonders kurios, denn wenige sind dem einstigen Front National, heute Rassemblement National, so eng verbunden wie er. Seit seinem 21. Lebensjahr ist er Mitglied der Partei, heute Teil des Parteivorstands und Abgeordneter der Nationalversammlung. 2002 leitete er die Präsidentschaftskampagne von Jean-Marie Le Pen. Und, das ist mehr als ein intimes Detail, Aliot war zehn Jahre lang Lebensgefährte von dessen Tochter Marine. Bevor sie sich im letzten Jahr trennten, hat Aliot gemeinsam mit ihr die so genenannte Ent-Diabolisierung der Partei betrieben. Wer den Holocaust leugnete oder antisemitische Sprüche klopfte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Im 2015 sogar der eigene Vater, Schwiegervater und Parteigründer Jean-Marie. Der Säuberungsprozess endete 2015 mit der Namensänderung. 

"Rechts, aber nicht rechtsextrem"

Aliot wirkt, man kann es nicht anders sagen, wie ein sympathischer Typ. Der Mann mit der Statur eines Rugbyspielers hat seinen südfranzösischen Akzent nie abgelegt. In seinem leicht gebräunten Gesicht schimmert noch der kleine Junge durch, der er einst gewesen sein muss. Vielleicht verkörpert niemand die dédiabilsation besser als er. „Ich bin rechts, aber nicht rechtsextrem“, versichert Aliot.

Mit ihm ist zum Abschluss gekommen, was die Zeitung „Le Monde“ als „Notabilisierung“ bezeichnet. Aus einem von allen gemiedenen Rechtsextremen ist eine angesehene Persönlichkeit geworden, von der Mehrheit akzeptiert. Seine mögliche Wahl scheint in Perpignan nicht mehr viele zu schockieren. Der Hass auf den amtierenden Pujol wirkt größer als die Angst vor Aliot. 

„Ich habe noch nie ein rassischstes Wort aus seinem Mund gehört“, versichert Nick Giménez, der 72-jährige Sprecher der Zigeunergemeinde von Perpignan. Saint-Jacques, sein Viertel, wo der Müll auf der Straße liegt, die Häuser zusammenstürzen und regelmäßig Schüsse fallen, ist das beste Beispiel für gescheiterte Stadtpolitik. „Nur Misere“, seufzt Giménez. 

Insgesamt steht es nicht gut um Perpignan. In der Hauptstraße stehen mehr als die Hälfte der Geschäfte leer. Die Arbeitslosenzahl lag schon vor der Corona-Krise bei 14 Prozent. Fast ein Drittel der Einwohner gilt als arm. Kein Wunder, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr an die Versprechen alteingesessener Parteien glauben.

Auf Aliots Liste stehen 20 unabhängige Kandidaten, ehemalige Sozialisten, Gaullisten, Konservative, ein besonderer Fang war aber André Bonet, Schriftsteller und ehemaliger Präsident des Literaturzentrums von Perpignan. Nach dem ersten Wahlgang hat sich die Lage noch weiter zugespitzt, weil selbst Macrons „La République en Marche“ vor Dissidenz nicht gefeit war. Romain Grau, Kandidat für Macrons LREM und Studienfreund des Präsidenten, hat sich zwar aus dem Rennen zurückgezogen, „um alles zu tun, um die Wahl Aliots zu verhindern“. Aber drei Mitglieder seiner Liste sind zum Gegner übergewechselt und rufen öffentlich zur Wahl Aliots auf. Darunter auch der ehemalige Präsident des Arbeitsgerichts. „Ich hoffe, es gibt in letzter Sekunde ein Aufbegehren gegen Aliot“, sagt Grau im Gespräch mit WELT. Macron, fügt er hinzu, verfolge die Wahl mit Interesse: „Natürlich ist der Präsident beunruhigt.“

„Die republikanische Front bröckelt, wie nie zuvor. Und ich bin das beste Beispiel dafür“, gesteht Olivier Amiel, Konservativer und lange Zeit Vizebürgermeister unter Pujol. Er ist gegen seinen Chef angetreten, hat aber selbst nur wenig Stimmen beim ersten Wahlgang geholt. Auch Amiel hat sich zurückgezogen. Aber er hält die gemeinsame Verschwörung des bürgerlichen Lagers gegen extreme Kandidaten für eine Sache von gestern. „Die so genannte republikanische Front hat sich in einen Debattenaustreter verwandelt, eine Art Feuerlöscher der Ideen, der alles im Keim erstickt“, so Amiel. Aliot bezeichnet er als Demokraten, der in Sachen Sicherheit weniger fordere als er selbst in seinem Programm. 

Roter Teppich

„Vor Aliot ist ein roter Teppich ausgerollt worden, breit wie ein Boulevard“, bedauert Jean-Paul Alduy, der 16 Jahre lang selbst Bürgermeister war, nachdem schon seit Vater, Paul Alduy, 34 Jahre lang die Geschicke der Stadt geleitet hat. „Es ist zum Verzweifeln, ich habe mir das in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt, dass Perpignan eines Tages in die Hände der Rechtsextremen fällt.“ Dabei ist womöglich auch Alduy Teil des Problems, Teil des Systems-Alduy, wie sie die Dynastie in Perpignan nennen: Sein Vater war 40 Jahre lang Bürgermeister, er selbst 16 Jahre, auf ihn folgte Pujol, der vorher schon Stadtrat war. 63 Jahre Misswirtschaft, rechnen sie in Perpignan vor.

Pujol sitzt in einem schmucklosen Konferenzraum des Rathauses, schwarzer Anzug, weißes Hemd, und spricht von einem Duell der Demokratie gegen den Populismus. „Ich bin jetzt allein an der Front“, sagt der Mann, der nach mehr als drei Jahrzehnten in der Politik behauptet, kein Berufspolitiker zu sein. Aliot wirft er vor, Perpignan nur als Sprungbrett zu benutzten. Aber will Aliot wirklich hoch hinaus? Seine Wahl würden in jedem Fall zeigen, dass es die gläserne Decke nicht mehr gibt. Der RN kann gewinnen. Überall.