Langsam und mühsam schiebt sich ein Kopf in den Fensterrahmen hoch über dem Petersplatz. Mit gequältem Gesichtsausdruck versucht der zusammengesunkene Mann ein paar Worte herauszubringen. Es gelingt ihm nicht. Kurz darauf, am 2. April 2005, ist Papst Johannes Paul II. tot.

Fast 27 Jahre lang hatte Karol Wojtyla Sonntag für Sonntag – sofern ihn nicht Reisen fernhielten – von seinem Arbeitszimmer aus das Angelus gebetet. Wie ein Barometer gestattete die Größe der Menschenmenge unten auf dem Platz Rückschlüsse auf seine Popularität. Am Ende seines Lebens erreichte sie wieder Werte wie in den rauschhaften Anfangsjahren. Das öffentliche Leiden des Papstes, der jeden Gedanken an Rücktritt brüsk von sich wies, drängte zuletzt alle Einwände gegen manche Entscheidung und seinen Führungsstil in den Hintergrund. „Jesus ist auch nicht vom Kreuz gestiegen“, war seine Begründung für das Ausharren im Amt – ein gewaltiger Anspruch, hart an der Selbstüberhebung.

„Fürchtet euch nicht“, hatte Karol Wojtyla den Menschen zugerufen, als er 1978 nach seiner Wahl zum Nachfolger von Johannes Paul I. auf den Balkon des Petersdoms trat. Was für ein Auftakt! Kaum jemand kannte seinen Namen, nur Polen gelang es, ihn richtig auszusprechen. Fast 500 Jahre war es schon her, seit das Kardinalskollegium zuletzt einen Nicht-Italiener zum Papst gemacht hatte – den glücklosen Utrechter Hadrian VI. Und wann war zuletzt ein sportlicher, noch relativ junger Mann in dieses Amt berufen worden? War der Stuhl Petri nicht Greisen vorbehalten?

Die Neuevangelisierung und ihre Helfer

Der zweite Satz, den der Papst aus der Ferne, wie er sich nannte, den Menschen auf dem Petersplatz zurief, skizzierte schon sein Programm. „Öffnet die Tore für Christus, reißt sie auf.“ Das war sein Anspruch, sein Ziel und seine Hoffnung: Polen, Europa, ja die ganze Menschheit sollten sich Jesus Christus zuwenden, damit das dritte Jahrtausend ganz im Zeichen des Erlösers stünde. „Neuevangelisierung“ nannte der Papst sein ehrgeiziges Projekt.

Bei der Auswahl jener, die ihm dabei helfen sollten, hatte der Pole oft keine glückliche Hand. Für Österreich glaubte er, auf den marienfrommen Hans Hermann Groër und den scharfzüngigen Kurt Krenn zurückgreifen zu müssen. Beide Männer beschleunigten aus je anderen Gründen den Mitglieder- und Bedeutungsschwund der katholischen Kirche. Ihre Ernennung zog jahrelange innerkirchliche Querelen nach sich und wirkt bis heute nach.

In anderen Ländern passierte Ähnliches. Für eine klare Haltung in Fragen des Lebensschutzes übersah der Papst bei seinen Favoriten manche Engstirnigkeit, die ihm persönlich fremd war. Dass dabei auch der Missbrauch Minderjähriger aus dem Blickfeld geriet, sollte den Papst in der Spätphase seines Pontifikats noch einholen.

Furchtsamkeit kann man diesem Papst nicht vorwerfen. Weder deutsche Besatzer noch stalinistische Unterdrücker, nicht der triumphalistische Westen noch innerkirchliche Kritiker konnten den Willensstarken von seinen Vorstellungen abbringen. Den türkischen Rechtsextremisten Mehmet Ali Aca, der ihn auf dem überfüllten Petersplatz 1981 mit drei Kugeln niedergestreckt und lebensgefährlich verletzt hatte, ging er im Gefängnis besuchen. Die Nähe zu den Gläubigen vorsichtshalber zu meiden, wie seine Berater ihm nach dem Attentat nahelegten, zog der Kommunikator nicht in Erwägung. Der einzige Kompromiss blieb das Panzerglas am Papamobil.

Kardinal Ratzinger der Bremser im Zweierbob

Die Selbstsicherheit, mit der Johannes Paul II. die Kirche führte, machte Unwahrscheinliches möglich. Die gewaltlose Überwindung des Kommunismus in Polen wird ihm zugeschrieben. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, der erstmalige Besuch von Synagogen und Moscheen durch ein Kirchenoberhaupt und nicht zuletzt die rituelle Bitte um Vergebung für Verfehlungen der „Söhne und Töchter der Kirche“ im Großen Jubiläumsjahr 2000 wären ohne die Hartnäckigkeit Karol Wojtylas nicht denkbar gewesen.

Auch das gemeinsame Friedensgebet der Religionen in Assisi 1986, das konservative Katholiken als gefährliche Relativierung des Wahrheitsanspruchs der Kirche interpretierten, zog er gegen jeden Einwand durch. 2002, gegen Ende seines Pontifikats, wiederholte er die Geste, nur die Choreografie hatte sich geändert. Diesmal saßen die Religionsführer nicht gleichrangig mit ihm im Halbkreis, die Sitzordnung glich einem Pfeil, an dessen Spitze der Papst Platz nahm. Da hatte sein späterer Nachfolger, Kardinal Josef Ratzinger, der Bremser im vatikanischen Zweierbob, der schon beim ersten Gebet skeptisch gewesen war, bereits die Oberhand gewonnen.

Die Schattenseiten des dominanten Papstes

Die päpstliche Selbstgewissheit hatte auch ihre Schattenseiten. Die Dominanz der Persönlichkeit Karol Wojtylas, die atemlos aufeinanderfolgenden Events, die zahllosen Heiligsprechungen auf dem Petersplatz, die permanente Medienpräsenz des geschulten Schauspielers lenkten den Fokus von Jahr zu Jahr mehr auf Rom. Die Lokalkirchen, die Bischöfe, die nach dem Willen des Zweiten Vatikankonzils mehr Gewicht bekommen sollten, verblassten neben dem Mann in Weiß, der überall zugleich zu sein schien. Der Papst, der in seiner Amtszeit 104 Auslandsreisen unternahm und noch viel öfter Italien durchquerte, schien am großen, stets reformbedürftigen Organismus Kirche nicht besonders interessiert. Lieber kommunizierte er direkt mit den Menschen, am Apparat vorbei.

Ein Bild vom Weltjugendtreffen im Großen Jubiläumsjahr 2000 in Rom sagt viel über das charismatische Verhältnis Karol Wojtylas zu Menschen, insbesondere zu Jugendlichen. Mehr als eine Million hatten sich auf der riesigen Wiese vor der Stadt niedergelassen. Auf der Bühne saßen die Kardinäle, in ihrer Mitte, etwas erhöht, der greise Johannes Paul. Über den Pulk der Purpurgewandeten hinweg gestikulierte der gebrechliche Mann mit seinem Stock, und die Menge jubelte, noch ehe ein Wort gesagt war. Der Kurie blieb die undankbare Rolle der Statisterie.

Politische Einordnung war und bleibt schwierig

Mit den gängigen Begriffen politischer Einordnung ist dieser Papst nicht zu erklären. Es genügt ein Blick auf das zentrale Thema seiner Amtszeit, den Schutz des Lebens. Da steckt alles drin, was Linke und Rechte, Kritiker wie Fans des Polen störte und begeisterte: seine kategorische Ablehnung der Abtreibung, sein Kampf gegen die Todesstrafe, gegen den Golfkrieg, gegen Euthanasie und gegen Basteleien am menschlichen Erbgut. Ein geschlossener Kosmos an Überzeugungen, die sich nicht in politische Kategorien pressen lassen. Nur in eine, die Karol Wojtyla seit Jugendjahren begleitete.

In seinen Studienjahren in Krakau formte Johannes Paul II. seinen Kernbegriff aus, von dem aus sich sein Handeln und Denken am ehesten verstehen lässt: Die menschliche Person. Ihr hat alles zu dienen, Staat, Wirtschaft und Kirche. Den Menschen vor Übergriffen der Politik, des Marktes, aber auch vor den eigenen, manchmal fehlgeleiteten Ansprüchen und Wünschen zu schützen, sah Johannes Paul II. als zentrale Aufgabe der Kirche an, als seinen Auftrag.

Was Übergriffe des Staates bedeuten können, wusste er aus dem von den Nazis besetzten, später kommunistischen Polen. Die Exzesse der Marktwirtschaft und die Verdinglichung des Menschen nahm er nach dem Wendejahr 1989 ins Visier, manchmal mit geradezu marxistischer Diktion. Auf Widerstand stieß er, wo er versuchte, im Namen göttlicher Gesetze in das Privatleben der Menschen einzugreifen. Die Maxime Friedrichs des Großen, möge jeder nach seiner Façon selig werden, war ihm zutiefst fremd.

Die Würze bleibt

Die Unbedingtheit, mit der dieser Papst seine Überzeugungen verfocht, wirkten im Umfeld westlicher Gesellschaften seltsam fremd, ja bedrohlich. Wie umgehen mit dessen Wahrheitsanspruch und Hochethos, das sich von demokratischen Entscheidungen nicht beeindrucken ließ?

„Salz der Erde“ sollten sie sein, sagte Jesus zu seinen Jünger. Fehlt es, wird das Essen schal, zu viel davon aber verdirbt die Mahlzeit. Johannes Paul II. verabreichte der Welt und der Kirche eine große Prise Salz. 16 Jahre nach seinem Tod steht keine Überdosis mehr zu befürchten. Die Würze aber bleibt.