Herr Münkler, im Jänner kommt voraussichtlich der britische Abschied von der EU. Ist der Brexit Anfang einer Zerfallserscheinung der EU?
HERFRIED MÜNKLER: Die Schwierigkeiten, in die sich die Briten selbst gebracht haben, sprich die innere Spaltung des Landes, bleibt auch nach dem Brexit bestehen. Das dürfte weitere Kandidaten davon abhalten, die EU zu verlassen. Aber mit Großbritannien verliert die EU auch an Handlungsfähigkeit, nicht nur militärisch. Besonders Deutschland wird dies noch zu spüren kommen. Nicht allein wegen der engen Wirtschaftsverbindungen zu Großbritannien. In der steten EU-Debatte zwischen französischem Staatsdirigismus und britischem Wirtschaftsliberalismus konnten Länder wie Deutschland und Österreich eine bequeme Vermittlerrolle einnehmen. Diese komfortable Mittellage ist überholt. Noch eine Folge zeichnet sich ab: Die verbleibende EU wird sehr viel kontinentaleuropäischer geprägt sein, die transatlantische Position wird schwächer.

Im Februar startet mit den Vorwahlen in Iowa das Präsidentschaftswahljahr in den USA. Das erratische Verhalten von Präsident Trump weckt auch Zweifel an einem großen Vorteil der Demokratie: der Personalauswahl. Sehen wir in den USA die Krisensymptome der westlichen Demokratie oder die Krise einer wankenden Weltmacht?
Beides. Den USA kam, zunächst im Kalten Krieg nur für den Westen, dann nach 1989 für eine kurze Zeit global, die Rolle des Hüters der internationalen Ordnung zu. Und die USA haben die Position angenommen. Wenn sich das Land inzwischen aus dieser Rolle verabschiedet, gibt es keinen, der sie einnehmen kann. Manche glauben, China könnte diese Funktion übernehmen, aber das ist ein Irrtum. China geht es vorrangig um die Sicherung der eigenen Einflusszonen in Afrika, in Zentral- und Südostasien. Das Beispiel USA zeigt: Die Rolle des Hüters, manche sprechen auch vom Weltpolizisten, verursacht enorme Kosten. Das leitet über zum Aufstieg Trumps und zur Krise der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Es gibt eine tiefe Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung. Das gilt nicht nur für die USA, sondern auch für Nordfrankreich, Ostdeutschland sowie Ostmittel- und Osteuropa. Viele dort denken nicht in großen Räumen, sondern kleinräumig und kurzfristig mit Blick auf den nächsten Wahltermin. Ein weitsichtig denkender, global handelnder Akteur steht im Widerspruch zum Egoismus der heimischen Wähler. Die fragen: Was tut der Staat für mich? Dieses Sentiment hat Trump bedient. America First ist die Formel für die Verabschiedung der USA aus der Hüterrolle. Auf Dauer ist es schwierig, eine Demokratie in der Rolle eines gemeinnützigen Hüters zu halten.

Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schaut auf die Wähler daheim. Mit Blick auf die Kommunalwahlen im März und mögliche Erfolge der Rechtspopulistin Marine Le Pen hat er die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien gestoppt. Blockiert das stete Starren auf die Innenpolitik die große EU-Agenda?
Demokratie und das Schielen auf Wahltermine stehen mitunter im Widerspruch zu den langen Entwicklungslinien der Politik. Eine Demokratisierung Europas wird es nicht geben, weil es auf absehbare Zeit kein europäisches Volk gibt. Mit dem Aufstieg europafeindlicher Parteien von Le Pen bis zur AfD stellt sich ein zusätzliches Problem. Die Politik der europäischen Integration war in den Mitgliedstaaten lange unumstritten. Das ist vorbei. Europa steht nicht nur in seinem Wie, sondern auch in seinem Ob zur Disposition. Macron hat in der Präsidentschaftswahl 2017 gegen Le Pen dieses Ob ins Zentrum seiner Kampagne gestellt. Er hat die Wahl klar gewonnen – als Plebiszit über Europa. Am Protest der Gelbwesten zeigt sich, dass diese Mehrheit trügerisch war, weil er innenpolitisch nicht über ein Mandat für Reformen verfügt. Deshalb betreibt der Präsident systematische Aufmerksamkeitspolitik, nicht allein mit Blick auf den Balkan, sondern auch in Bezug auf die Nato.

Im Mai hält die Nato „Defender“ ab, das größte Manöver in der Geschichte der Allianz. Präsident Macron hält die Allianz für „hirntot“. Ist das Bündnis 70 Jahre nach der Gründung noch zeitgemäß?
Nach dem Ende des Kalten Krieges sah alles sehr optimistisch aus. Die Nato als Akteur des reichen Nordens, der weltweit für eine liberale, regelgebundene Ordnung eintritt. Das hat sich geändert. Im Südosten zerfasert die Nato mit Blick auf neue Herausforderungen. Dort erfüllt die Türkei nicht mehr die Rolle eines Stabilitätsankers in der Region. Insofern wird die Nato eine geringere Rolle spielen, auch die Beistandsgarantie nach Artikel 5 ist unsicher geworden. Das hat mit Donald Trump und dem Rückzug der USA zu tun. Aber auch mit veränderten Bedrohungslagen. In einer Welt mit hybriden Kriegsführungen und digitalen Angriffen auf sensible Infrastruktur schwindet die Bedeutung von Grenzen und Territorien. Cyber-Attacken lassen sich häufig nicht einmal eindeutig einem Staat als Angreifer zuordnen, gegen wen soll da die Beistandspflicht greifen? Die Nato ist also in einer schwierigen Situation. Solche Bündnissysteme werden im 21. Jahrhundert nicht mehr das sein können, was sie im 20. Jahrhundert gewesen sind, weil das Bild des Krieges sich gewandelt hat.

Im November tagt der G20-Gipfel, ein Forum mit China und Russland. Wie sieht die künftige Weltordnung aus?
Der Rückzug der USA führt zu einem Umbruch der Weltordnung, der sich im nächsten Jahrzehnt deutlich bemerkbar machen wird. Da bildet sich ein Klub der fünf heraus, die sich als Großmächte beschreiben lassen und mit unterschiedlicher Dominanz agieren: Das sind die USA, China, Russland, allerdings nur aufgrund seiner geografischen Lage und seiner Nuklearstreitkräfte, die EU, wenn sie denn zusammenbleibt, und das ist Indien, das China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen wird. Das heißt aber auch, dass wir es mit fünf sehr unterschiedlichen Wertesystemen zu tun haben. Die Vorstellung des Universalismus der Normen, die nach dem Ende des Kalten Krieges populär war, lässt sich unter diesen Umständen nicht halten. Ebenso die Überlegung der Verrechtlichung der internationalen Politik. Die Europäer sind die Letzten, die universalistisch denken, die aber die geringsten Fähigkeiten haben, universalistisch zu agieren.

Die CDU sucht spätestens im Dezember einen neuen Kanzlerkandidaten in Deutschland. Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat ihre Position gefestigt. Ursula von der Leyen steht an der Spitze der EU-Kommission, Christine Lagarde führt die Europäische Zentralbank. Werden das neue Jahrzehnt und das 21. Jahrhundert weiblich geprägt sein?
Da das 20. Jahrhundert, wie viele Jahrhunderte davor, männlich geprägt war, gehört für das 21. Jahrhundert wenig dazu, weiblicher zu sein. Die Zeit der Basta-Politik Gerhard Schröders ist vorbei. Die Familienbilder wandeln sich und erst recht die Rolle der Frau. Je komplizierter Politik wird, umso mehr kommt es auf das Austarieren und Aushandeln an. Frauen haben einen Vorteil, weil sie eine größere Fähigkeit besitzen, Dinge bis zum Ende auszuhandeln. Es kommt nicht von ungefähr, dass die eigentliche Stärke von Angela Merkel das Verhandeln ist. Auch die Installation der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist das Ergebnis von Verhandlungen. Da müssen sich die Männer noch einiges erarbeiten. In mancher Hinsicht lässt sich der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien auch als Aufstand älterer, frustrierter Männer verstehen, die den Basta-Zeiten nachtrauern. Die Politik des 21. Jahrhunderts wird weiblicher. Aber das ist Gender, nicht Geschlecht. Insofern geht es um neue Rollenbilder. Das können sich auch Männer erarbeiten.