Als Boris Johnson am Donnerstag in der Früh „seinen“ Deal zum Austritt aus der EU telefonisch vereinbarte, wurde der Premier vom Kommissionspräsidenten offenbar gefragt, ob er denn glaube, dieser Vereinbarung in Westminster eine Mehrheit sichern zu können. Nach den Worten von EU-Chefunterhändler Michel Barnier erwiderte Johnson, er sei „zuversichtlich“, dass ihm das gelingen werde. Daheim in London teilt diese Zuversicht allerdings kaum jemand.

Dort glaubt man, dass der mühsam errungene und feierlich präsentierte Brüsseler Deal keine 48 Stunden überleben wird – falls ihn Johnson, wie geplant, am Samstag in einer Sondersitzung des Parlaments zur Abstimmung stellt und bis dahin an der Themse nicht noch ein Wunder geschieht.

Zehn Stimmen

Schon mit den zehn Stimmen der Demokratischen Unionisten (DUP), der maßgeblichen Partei der nordirischen Protestanten, könnte es für Johnson äußerst knapp werden. Ohne die DUP aber hat der Deal kaum eine Chance.

Tagelang hatte sich der Premier vergeblich bemüht, die Unionisten für seinen Brexit-Kompromiss zu gewinnen. Dass Johnson trotzdem in einen „großartigen neuen Deal“ mit der EU einwilligte, beeindruckt die für ihre Sturheit bekannte kleine Partei nicht. Sie bleibe bei ihren Vorbehalten, erklärte DUP-Chefin Arlene Foster. Ihre Partei werde nicht für Johnsons neues Abkommen stimmen.

Sollte es dem Premier nicht bis Samstag gelingen, die Unionisten von dieser Position abzubringen, droht ihm im Unterhaus eine Niederlage. 320 Stimmen braucht er, um das mit der EU vereinbarte Abkommen durchzubringen. Aber er verfügt nur über 250 bis 260 „verlässliche“ Tory-Abgeordnete. Unklar ist, wie viele der 28 Tory-Hardliner, die bisher jeden Deal abgelehnt haben, ihm zusätzlich beispringen würden. Einige erwägen es offenbar. Andere zögern, nachdem die DUP den Deal abgelehnt hat.

Eine weitere Gruppe von 22 eher proeuropäischen konservativen „Rebellen“, von denen 21 wegen ihres Widerstands gegen einen No-Deal-Brexit kürzlich aus der Fraktion ausgeschlossen wurden, ist ebenfalls gespalten. Nicht alle werden Johnson folgen. Mehrere fordern ein neues Referendum.

Auch auf zwei Dutzend Labour-Abgeordnete aus „Brexit-freundlichen“ Regionen zählt Johnson. Labours Parteichef Jeremy Corbyn hat sich aber scharf gegen den Deal gewandt, den er für „arbeiterfeindlich“ und für einen „Ausverkauf britischer Interessen“ hält. Viele Labour-Leute dürften gegen dieses Verdikt nicht aufbegehren.
Ohne die zehn DUP-Stimmen hat Boris Johnson so nur wenig Aussichten, seinen Deal durchs Parlament zu bringen. Es sei feste Überzeugung ihrer Partei, bekräftigte Foster jedoch am Donnerstag, dass die Brüsseler Vereinbarung „nicht im langfristigen Interesse Nordirlands“ liege. Denn eine „Grenze in der Irischen See“, die Nordirland als Wirtschaftsraum faktisch vom Rest des Vereinigten Königreichs trennt, ist in den Augen der Unionisten ein gefährlicher erster Schritt zu irischer Einheit. Auch dass die EU ihnen das Veto nicht zubilligen will, das Johnson ihnen eigentlich zugedacht hatte, hat viel Unmut bei den Unionisten ausgelöst.
Tatsächlich befindet sich die DUP in Nordirland unter starkem Druck ihrer Anhänger. Rivalisierende unionistische Politiker haben Foster vorgeworfen, in ihrer Unterstützung Johnsons viel zu weit gegangen zu sein. Es gehe nicht an, dass Nordirland, als abgespaltenes Zollgebiet, die Last einer Brexit-Vereinbarung zu tragen habe, meint Jim Nicholson von der Partei der Ulster-Unionisten (UUP). Boris Johnson habe Nordirland „zum Opferlamm“ gemacht, zürnt Nicholson.

Das trifft Fosters Partei schwer, die sich immer rühmte, Nordirlands Protestanten gegen alle „Feinde der Union“ zu verteidigen. Als einzige Partei hatte die DUP ja 1998 gegen den nordirischen Friedensvertrag und gegen Mitbestimmung der Katholiken in der Provinz rebelliert – wenn auch vergebens. Und als einzige Partei Nordirlands zog sie für den Brexit zu Felde. Beim Referendum von 2016 stimmten allerdings 56 Prozent der Nordiren für den Verbleib in der EU. Vor zwei Jahren hatte Foster dann einen Versuch Theresa Mays, eine ähnliche Regelung wie die jetzige mit der EU zu verabreden, in letzter Minute auf spektakuläre Weise sabotiert.

Eine „blutrote“ Grenzlinie durch die Irische See, wie Foster selbst entsprechende Zollkontrollen nannte, stellt alle ihre Gelöbnisse infrage.
Das Dilemma der DUP besteht darin, dass sie mit ihrem Nein nicht nur ihren Einfluss in London gefährdet. Letztlich sperrt sich Foster damit auch gegen eine Lösung, die freien Warenverkehr auf der irischen Insel und der nordirischen Wirtschaft damit Stabilität garantieren würde. Geschäftsleute und Wirtschaftsbosse in der Provinz bedrängen die DUP seit Langem, einem Deal zur Offenhaltung der irischen Grenze zuzustimmen. Und während der Verhandlungen Mays mit Brüssel bauschte Foster die Frage eines diskreten Managements von Zollkontrollen in der Irischen See zur schicksalhaften „blutroten“ Abspaltung von Britannien auf.

Ein Schock

Dass Johnson nun gegen ihren Willen „seinen“ Deal mit Brüssel verkündete, war für die Unionisten ein Schock. So war das nicht vorgesehen. Für eine weitere Verzögerung des Brexits, meinte der Premier, gebe es „keinen Grund“ mehr. Etwas Verwirrung richtete Jean-Claude Juncker an, als er dem zustimmte: „Einen neuerlichen Aufschub wird es nun nicht mehr geben.“

Britische Politiker gehen jedoch davon aus, dass die EU dem Vereinigten Königreich auf Antrag eine weitere Fristerstreckung gewähren wird. Jedem Beobachter in London aber war eines klar – dass auch der Kommissionspräsident kurz vor dem eigenen Abschied aus Brüssel vom Brexit die Nase gründlich voll hat.