Und wie sie sich nach ihm zurückgesehnt haben! Woche für Woche haben die Franzosen Jacques Chirac aufs Podest gehoben, ihn Umfrage für Umfrage zum beliebtesten Politiker des Landes gekürt. Anfang dieses Jahrzehnts war das, zu einer Zeit also, da er doch gar nicht mehr Politiker war. Im Mai 2007 hatte Chirac dem Nachfolger Nicolas Sarkozy die Schlüssel zum Elysée-Palast in die Hand gedrückt. Aber der hemdsärmelige Draufgänger Sarkozy vermochte die Lücke eben nicht zu schließen, die der 22 Jahre ältere Vorgänger hinterlassen hatte. Niemand vermochte sie zu schließen. Chirac war der letzte Vater der französischen Nation.

Was danach kam, taugte nicht zur Vaterfigur: der unberechenbare Sarkozy nicht, der sich als Normalo empfehlende Sozialist Francois Hollande auch nicht und der die überkommene politische Ordnung einreißende Emmanuel Macron schon gar nicht. Keiner von ihnen wandte sich im Fernsehen mit diesem warmherzig-salbungsvollen „mes chers compatriotes“ an seine Landsleute. Keinen umgab diese Aura des humorvoll-weisen Beschützers, dieses fast mit Händen zu greifende „so glaubt mir doch, alles ist gut“. 

Im Kreise der Familie gestorben

Gewiss, in den vergangenen Jahren flaute der Chirac-Kult ab. Der Ex-Präsident litt an Demenz. So sehr Chiracs Gattin Bernadette auch das Privatleben der Familie vor Neugierigen schützte: nach und nach sickerte durch, dass der Altpräsident sich ins Reich des Vergessens zurückziehen würde. Doch jetzt, da er am Donnerstag mit 86 Jahren im Kreis der Familie gestorben ist, fühlt sich die Nation ihm aufs Neue eng verbunden – und damit aufs Neue verwaist.

Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als solle Chirac sie für immer begleiten. Vier Jahrzehnte lang sollte dieser Mann politisch mitmischen. Minister ist er, Bürgermeister von Paris, Regierungschef, Staatspräsident, manches gleich mehrmals. Als Premier etwa dient er von 1974 bis 1976 dem Präsidenten Valérie Giscard d’Estaing und von 1986 bis 1988 dann dessen Nachfolger Francois Mitterrand. Und nachdem es 1995 im dritten Anlauf endlich mit dem  Einzug in den Elysée-Palast geklappt hat, kann sich der Hausherr dort 2002 im zweiten Wahlgang mit stolzen 82 Prozent behaupten – geschmälert freilich durch die Tatsache, dass das überwältigende Votum vor allem eine Absage an den rechtsradikalen Rivalen Jean-Marie Le Pen ist.

Vorkämpfer der multipolaren Weltordnung

Hinzu kommt, dass Chiracs politisches Kredo in Zeiten von Trump wieder brandaktuell ist. Als Vorkämpfer einer multipolaren Weltordnung verstand sich der Gaullist, in der Frankreich neben anderen Mittelmächten seinen festen Platz hat. Beim von den USA angeführten Irakkrieg macht der Franzose nicht mit. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin begegnet er mit großer Nachsicht. Dass die Franzosen der Stärkung Europas durch eine EU-Verfassung bei der Volksabstimmung 2005 eine Absage erteilen, zählt zu den schmerzlichsten Niederlagen seines Lebens.

Unbeirrt Flagge zeigt Chirac auch im Kampf gegen rechts. Der Franzose ist es, der energisch auf EU-Sanktionen gegen den Wiener Regierungschef Jörg Haider dringt, worauf der Österreicher ihn als Westentaschen-Napoleon schmäht. Als erster französischer Staatschef räumt Chirac die Mitschuld seines Landes bei der Judenverfolgung ein. Der Glauben an die Gleichberechtigung der Völker und Kulturen, auch er zählt zu Chiracs Credo. Ein ethnischen Minderheiten gewidmetes, nach ihm benanntes Museum am Pariser Quai Branly erinnert daran.

Mach Kehrtwende, mach Widerspruch

Mit hehren Grundsätzen allein hätte dieser politische Dauerläufer freilich kaum so lange durchgehalten. Chiracs Lebenslauf weist so manche Kehrtwende auf, ist reich an Widersprüchen. Ungerührt nahm der Fürsprecher dauerhafter Entwicklung und Schutzherr ethnischer Minderheiten 1995 die Atomwaffenversuche im Pazifik wieder auf. Auch fand Chirac nichts dabei, armen Ländern faire Handelsbedingungen zu versprechen, zugleich aber in Brüssel auf Schutz vor Billigeinfuhren aus der Dritten Welt zu pochen.

Wenig prinzipientreu zeigte sich Chirac auch, als ans Licht kam, dass während seiner Zeit als Pariser Bürgermeister im Rathaus Scheinarbeitsverträge unterzeichnet wurden. Als Staatspräsident entzog sich das frühere Stadtoberhaupt jeglicher Strafverfolgung. Sein loyaler Gefolgsmann Alain Juppé musste den Kopf hinhalten, wurde verurteilt. „Chirac ist ein Wegbegleiter, der manchmal geschickt ausweicht, der nie jemanden stört“, so charakterisiert der Biograf Franz-Olivier Giesbert den Ex-Präsidenten.

Irgendwann war es mit Ausweichen dann freilich nicht mehr getan. Als der an Lebens- wie Amtszeit älteste Staatschef Europas mit 74 Jahren den Verzicht auf eine weitere Präsidentschaftskandidatur erklärte, ging ein Stoßseufzer der Erleichterung durchs Land. Der Mann, der soviel Ruhe ausstrahlte, hatte zuletzt Stillstand verkörpert. Aber was auf Chirac im Elysée-Palast folgte, hat die Franzosen mit ihm auf ewig versöhnt.