Es war eine für Israel in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Parlamentswahl. Das änderte sich auch nicht, als die Fernsehsender um Punkt zehn Uhr abends Ortszeit mit Schließung der Wahllokale ihre Hochrechnungen veröffentlichten.

Zum ersten Mal seit Israels Staatsgründung tönte aus keinem Parteihauptquartier Jubel – und das völlig zurecht. Israels Wähler, die in weitaus größeren Zahlen als erwartet in der zweiten Parlamentswahl im selben Jahr von ihrem Wahlrecht gebraucht gemacht hatten, bescherten ihrem Land erneut eine höchst verzwickte Pattsituation.

Weder das rechts-konservative, religiöse Lager unter Premier Benjamin Netanjahu noch die linke Opposition unter dem ehemaligen Generalstabchef Benny Gantz errangen eine regierungsfähige Mehrheit von 61 der insgesamt 120 Sitze in der Knesset. Netanjahus Koalition erreichte nach Auszählung von rund 80 Prozent der Stimmen nur maximal 56, Gantzs Bündnis maximal 55 Sitze. Viele scheinen nun ratlos. Eine dritte Wahlrunde ist sogar möglich.

Drei Szenarien

Der Vorsitzende der Mitte-links-Liste Blau-Weiß, Gantz, hat sich derweil für die Bildung einer Einheitsregierung ausgesprochen. „Wir werden uns dafür einsetzen, eine breite Regierung der nationalen Einheit zu bilden, die den Willen des Volkes zum Ausdruck bringt“, sagte Gantz am Mittwoch vor Anhängern in Tel Aviv. „Wir haben die Verhandlungen aufgenommen, und ich werde mit allen sprechen.“ Nur: Ist das realistisch? Es gibt drei wahrscheinliche Szenarien.

Die Hauptverantwortlichen dafür, dass Netanjahu keine Mehrheit errang, sind ausgerechnet seine innenpolitischen Erzfeinde, Israels arabische Bürger, und Netanjahus ehemaliger Verbündeter Avigdor Lieberman. Der ehemalige Verteidigungsminister, der international als Hardliner bekannt ist, kündigte seinem ehemaligen Boss vor einem Jahr die Gefolgschaft auf und erfand sich für diese Wahlen neu. Dabei konzentrierte er sich hauptsächlich auf innenpolitische Themen. 

Sein zentrales Motto: „Make Israel normal again – macht Israel wieder normal“ half ihm vom allgemeinen Unmut in der Bevölkerung über die zunehmende Macht der Rabbiner und radikaler Parteien zu profitieren. Netanjahu hatte diesen gegenüber nach den letzten Wahlen im April in Koalitionsverhandlungen enorme Zugeständnisse gemacht, und Vertreter religiöser Randgruppen zu Ministern ernannt.

Die Wähler dankten Lieberman seinen Sinneswandel, und machten seine Partei – laut den ersten Hochrechnungen – zur viertgrößten Fraktion in der Knesset. Ohne ihn können weder Netanjahu noch Gantz vom Präsident das Mandat erhalten, eine Regierung zu bilden. Im Wahlkampf stellte Lieberman eine klare Bedingung für seine Zustimmung: Er werde nur dem Politiker seine Stimme geben, der eine säkulare, nationale Einheitsregierung bilde.

Druck auf den Königsmacher

Für Lieberman erzeugt das aber nun ein Dilemma: Sollten Gantz und Netanjahu nämlich tatsächlich zusammenkommen, hätten sie auch ohne Lieberman die notwendige Mehrheit im Parlament. Warum ihn also einbinden? Gantz und Netanjahu sind zwar von Lieberman abhängig, aber nur solange sie nicht miteinander auskommen. Das verleiht ihnen ein Druckmittel gegenüber dem Königsmacher.

Sie können ihm androhen, ihn zu ignorieren – um ihn letztlich doch auf ihre Seite zu kriegen. Beide werden versuchen ihn umzustimmen, um ihren großen Rivalen außen vor lassen zu können, und sich das Einiges kosten lassen. Diese werden entscheiden, ob Israel eine schmale rechte oder linke, oder eine breite nationale Einheitsregierung erhält.

Lieberman selbst rief nach der Wahl zur Bildung einer großen Koalition auf. Er forderte am Dienstagabend eine „nationale, liberale breite Regierung“. Diese müsse aus seiner eigenen Partei, dem Likud von Netanjahu und dem Bündnis von Gantz bestehen. Eine breite Koalition sei notwendig, weil Israel sich in einem Notstand befinde.

Ein neuer Faktor, der bei dieser Wahl hinzukam und langfristigen Einfluss auf Israels Politik haben könnte, sind Israels arabischen Staatsbürger – rund 20 Prozent der Bevölkerung. Seit den neunziger Jahren nahm hier die Wahlbeteiligung kontinuierlich ab. Bei den letzten Wahlen im April erreichte sie gar einen Tiefpunkt von 45 Prozent. Auch in diesem Wahlkampf stilisierte Netanjahu Israels Araber erneut pauschal als Staatsfeinde und potenzielle Wahlfälscher. Doch statt sie abzuschrecken, scheint das bei Vielen eine Trotzreaktion ausgelöst zu haben. Hinzu kommt, dass die mehrheitlich jüdischen Parteien sich diesmal auch aktiv um Israels arabischen Wähler bemühten.

Diese Anstrengungen zeigten nun Erfolg. Die Wahlbeteiligung im arabischen Sektor stieg bei diesen Wahlen, und trug so maßgeblich dazu bei, dass es Netanjahus rechtem Lager auch diesmal nicht gelang, eine Mehrheit im Parlament zu erringen. Mehr noch: Der Zusammenschluss der arabischen Parteien ist die drittgrößte Fraktion im Parlament. Kommt es zu einer nationalen Einheitsregierung, würde ihr Parteivorsitzender Aiman Odeh Oppositionsführer werden. Es wäre das erste Mal, dass ein Araber diese bedeutende Funktion im jüdischen Staat übernimmt. Der Oppositionsführer trifft alle ausländischen Staatschefs, die Israel besuchen, und wird wöchentlich vom Premier persönlich über die neuesten Entwicklungen in allen Bereichen unterrichtet.

Israels Araber wären also keine unbedeutende Randgruppe mehr, sondern ein wichtiger und vor allem sehr sichtbarer Akteur der Innen- und Außenpolitik. So zeichnete sich bereits Dienstagabend ein Wandel im Verhältnis zu ihnen ab. So kontaktierte Oppositionsführer Gantz den arabischen Politiker Odeh gleich nach den Wahlen – ein Novum in der israelischen Politik. Der hatte im Laufe des Wahlkampfes seinerseits nicht ausgeschlossen, einen Teil der Regierungsverantwortung als Minister zu übernehmen – ebenfalls eine revolutionäre Idee für Israels Araber, die die ideologischen Grundlagen des zionistischen Staates und seine Exekutive Jahrzehnte lang ablehnten.

Nicht nur Lieberman und Israels Araber werden indes in den kommenden Tagen stark umworben werden. Netanjahu ist bekannt für seine erfolgreichen Versuche, die Parteien seiner politischen Rivalen zu zerstückeln. Immer wieder fand er Schwachstellen in Form von Politikern, die er mit großen Anreizen in seine Koalition holte.

Diesmal müsste er fünf Überläufer finden, dann hätte er die erhoffte Mehrheit. Dies ist zwar schwer, aber nicht unmöglich, vor allem wenn man bedenkt, dass ein großer Teil der größten Oppositionspartei Blau-Weiß aus ehemaligen Mitgliedern von Netanjahus Likud besteht. Die verließen den Likud zwar vor allem wegen ihrer Unzufriedenheit mit dem Premier. Doch solcher Unmut ließ sich in der Vergangenheit oft durch das Angebot eines hohen Amtes wieder vergessen machen.

Ähnliche Kräfte könnten zugleich aber auch Gantz helfen, Netanjahu abzusetzen. Prinzipiell ist seine Partei mehr als willig, eine große Koalition mit dem Likud zu bilden – nur unter einer Bedingung: Der Likud muss dafür Netanjahu absetzen, der schon in wenigen Wochen in drei Fällen wegen Korruption angeklagt werden könnte.

Rebelliert Netanjahus Partei jetzt, auch, weil Israel sonst unregierbar wird? Während des Wahlkampfs hatte die Opposition immer wieder behauptet, die Führung des Likud sei bereit, Netanjahu im Falle einer Wahlniederlage fallen zu lassen. Die Frage ist nun, ob Netanjahus Schlappe, und der wachsende Unmut im Likud, groß genug sind, um einen solchen Putsch herbeizuführen.

Für den Likud, der dafür bekannt ist, dass seine Mitglieder ihrem Vorsitzenden die Treue halten, wäre das vollkommen neu: Die Partei hatte in den vergangenen 70 Jahren nur vier Führer. Netanjahu besitzt hier inzwischen einen fast mythischen Status.

Und dennoch: Es gibt eine neue Generation ambitionierter Politiker, die seit mehr als einem Jahrzehnt darauf warten, Netanjahu zu beerben, und die mit dessen konstanten Abdriften nach rechts, seinen Angriffen auf Israels demokratische, staatliche Institutionen und seinem Führungsstil unzufrieden sind. Den Likud in einer großen Einheitsregierung an der Macht zu halten wäre ein triftiger Grund, um den Premier abzusetzen.

Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten: Gantz könnte seine Forderung aufgeben, der Likud müsse Netanjahu stürzen, um Israel Chaos zu ersparen. Netanjahu könnte freiwillig seinen Hut nehmen, oder sich Gantz unterordnen.

Doch diese Szenarien scheinen vorerst höchst unwahrscheinlich, weil sie Gantzs und Netanjahus Interessen zuwiderlaufen. Gantz hat nur als Alternative zu Netanjahu eine politische Zukunft. Ein Bündnis mit Gantz würde Netanjahus Hoffnung zunichtemachen, Immunität vor seinen Korruptionsprozessen zu erhalten.

So wird Israels Zukunft wohl dadurch entschieden werden, wer zuerst nachgeben wird: Wird es Lieberman sein, der zu seinem ehemaligen Boss zurückkehren will? Oppositionspolitiker, die eine einmalige Chance ergreifen wollen, um in Netanjahus Regierung zu dienen? Oder Mitglieder des Likud, die ihres Vorsitzenden überdrüssig geworden sind und ihre Partei endlich selber anführen wollen? Die kommenden Wochen werden in Israel spannend und voller Überraschungen sein.