Langsam verlöscht das Licht. Die Gespräche im Kongresssaal des Hotels Laico von Tunis verstummen. Der Hauptdarsteller betritt die Bühne, die Finger der rechten Hand zum Victoryzeichen gespreizt. Der weiße Hemdkragen ist offen, die Ärmel sind hochgekrempelt. Kein Pult, kein Manuskript, das Mikrofon am Ohr befestigt, beide Hände gestikulieren frei, und dennoch wirkt jede Bewegung von Youssef Chahed einstudiert. Der massige Mann mit der Bassstimme ist kein Mensch, der einen Saal begeistern kann. Drei Jahre war er tunesischer Premier, der jüngste in der Geschichte des Landes und derjenige, der sich nach dem Arabischen Frühling 2011 am längsten an der Macht halten konnte. Jetzt will der 43-Jährige ganz nach oben.

Er redet von seinem „pragmatischen Traum“ für ein Tunesien, in das Touristen gerne reisen, in dem die Bürger sich sicher fühlen und gut leben, eine Nation mit weniger Bürokratie und weniger rigiden Vorschriften. Doch der Weg dahin ist dornig, auch unter seiner Regie ging es nur in Trippelschritten voran. Tunesien sei eine große Baustelle, sagt er. Auf den Plakaten posiert der Agraringenieur vor grünen Landschaften und einem Feld aus Sonnenpaneelen. „Ich vertraue ihm, er ist jung, dynamisch und ein fähiger Mann“, quittiert ein älterer Zuhörer im Saal den Auftritt.

Zwölf Tage dauerte Tunesiens Wahlkampf für das höchste Amt im Staat, um das 26 Kandidaten kämpfen, darunter zwei Frauen. Gut sieben Millionen Bürger sind aufgerufen, am heutigen Sonntag ihren neuen Präsidenten zu bestimmen. Wahrscheinlich fällt die Entscheidung erst in der zweiten Runde zwischen den beiden Bestplatzierten. „Ich habe saubere Hände, bei mir werden sie nichts finden“, beteuert Youssef Chahed, der seinen Steuerbescheid über 34.000 Euro ins Netz stellte und im Fernsehen die Bevölkerung beschwor, „bitte keine Korrupten zu wählen“.

Reale Chancen auf Wahlsieg trotz Haft

Dieser Seitenhieb gilt dem alerten Medienmogul Nabil Karoui. Seit Monaten liegt er in den Umfragen vorn. Kurz vor Beginn des Wahlkampfes dann der Paukenschlag. Wie aus heiterem Himmel wurde Karoui verhaftet, wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Seine Kampagne musste er aus der Zelle dirigieren. Nicht nur Karouis Anhänger sind überzeugt, dass Premier Chahed hinter der Verhaftung steckt, um seinen charismatischen Rivalen mundtot zu machen. Und so könnte diese Konfrontation zwischen der Staatsmacht und ihrem unkonventionellen Herausforderer zur Zerreißprobe für die fragile Demokratie werden. Der Populist Nabil Karoui hat trotz Haft reelle Chancen, in den Präsidentenpalast einzuziehen.

Seit dem Frühjahr inszenierte er sich im Land als Anwalt der Vergessenen und Seelsorger der Nation. Diese Kampagne bescherte ihm eine Serie professionell gemachter Videoclips – ein visueller Fundus, mit dem der prominente Häftling nun jeden Tag per Facebook weiter punktet. „Sie haben einen speziellen Platz in meinem Herzen“, umgarnt er Landfrauen mit gegerbten Gesichtern und bunten Kopftüchern. Von einem Schmied lässt er sich dessen Tagewerk erklären oder schlürft in einem Straßencafé einen Espresso. Viele Arme im Zentrum und im Süden verehren ihn wie ihren Erlöser.

Premiere für die gesamte arabische Welt

Auf andere Art volksnah gibt sich Abdelfattah Mourou, indem er stets in traditioneller tunesischer Jebba-Robe und mit der weiß-roten Kopfbedeckung eines Islamgelehrten auftritt. „Wählt den Kompetentesten. Für ein besseres Tunesien“, steht auf den Plakaten des Mitbegründers der religiös geprägten Ennahda, die die politisch stabilste Kraft im Land ist. „Ich bin einer von euch, esse wie ihr, schlafe wie ihr und hatte das gleiche miserable Leben“, sagt er zu Umstehenden bei einem Gang durch das heruntergekommene Trabantenviertel Ettadhamen im Norden von Tunis. Bei der Marathon-Fernsehdebatte der Kandidaten, einer Premiere für die arabische Welt, gab er sich staatsmännisch. Seine Verbindung zu Ennahda spielte er herunter. Stattdessen empfahl er sich als Vater der Nation.

Für Abir Moussi, eine der beiden Kandidatinnen, ist das alles Camouflage, um die Bevölkerung zu täuschen. Die ehemalige Funktionärin der 2011 aufgelösten Einheitspartei von Diktator Ben Ali setzt auf Klarheit. Die Anwältin hofft, von der Angst vor einer schleichenden Islamisierung zu profitieren und von einer nostalgischen Sehnsucht zurück zu straffen Verhältnissen.

Ihr „großer Führer“ ist Staatsgründer Habib Bourguiba. „Ich bin die Enkelin von Bourguiba“, ruft sie im Sportzentrum von La Goulette, dem alten Fischer- und Hafenviertel von Tunis, in die Menge, zu der viele jüngere Frauen und ältere Männer zählen. 1200 Anhänger sind gekommen. „Abir, das Volk steht hinter dir“, feiern sie die 44-jährige Mutter zweier Töchter. Sie wirbt für die Trennung von Politik und Religion und für einen starken Staat, um die Islamisten von Ennahda in Schach zu halten, deren Partei sie lieber heute als morgen verboten sehen möchte. „Was nützt die Meinungsfreiheit, wenn alles drunter und drüber geht“, ruft sie hinein in den frenetischen Beifall ihrer Fans.

Eine Anhängerin ist Sallouha Cherif, obwohl sie sich mit streng-schwarzem Gesichtsschleier verhüllt. Sie arbeitet als Sekretärin in einem Krankenhaus. „2011 war ein riesengroßer Fehler für Tunesien“, sagt sie und sträubt sich vehement, den Sturz des Diktators Ben Ali vor acht Jahren als Arabischen Frühling zu bezeichnen. Damals sei die Lage im Land um Welten besser gewesen als heute, sagt die 40-Jährige, die zusammen mit ihrem kleinen Sohn Yussef gekommen ist. Gegen die islamische Ennahda-Partei, die sie „Verführer der Jugend“ nennt, hegt sie ein abgrundtiefes Misstrauen. Und damit ihr Achtjähriger „durch solche Leute nicht auf Abwege gerät“, wie sie sagt, will sie ihre Stimme Abir Moussi geben.