Herr Lendvai, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch: „Jene wie ich, die zu den letzten Überlebenden der Schoah gehören, spüren fast täglich, auch in Österreich!, dass wir ,im Zeitalter der Schamlosigkeit’ (c David Grossman) leben.“ Was ist so schamlos?
PAUL LENDVAI: Es herrscht allerorten eine politische Schamlosigkeit, auch in meinem geliebten Österreich, siehe Ibiza-Video. Und in Deutschland sagt eine AfD doch tatsächlich, diese Allianz für Deutschland, dass der Holocaust ein „Vogelschiss“ war in der fantastischen deutschen Geschichte. Es ist unglaublich, dass heute Dinge geschehen, die vor zehn oder 20 Jahren noch unmöglich gewesen wären. Das Nonplusultra der Schamlosigkeit allerdings, noch dazu gepaart mit Heuchelei und Zynismus, findet in Ländern wie Ungarn oder Polen statt.


Inwiefern?
PAUL LENDVAI: Es war schamlos, wie Angela Merkel, die ich übrigens sehr schätze, zum 30-jährigen Jubiläum des Paneuropa-Picknicks in dieser Woche in Ungarn empfangen wurde. Was für wunderschöne Sätze Regierungschef Viktor Orban über Deutschland und über sie gesagt hat. Wo es sonst doch aus Orbans Umfeld über Angela Merkel nur heißt, dass die deutsche Kanzlerin eine Verräterin des Christentums ist und eine Verräterin der CDU. Orbans Leibjournalisten und Ratgeber sagen das! Merkel befindet sich damit übrigens in guter Gesellschaft, denn dieselben Leute haben auch Papst Franziskus einen debilen Idioten genannt. Und Orban und seine Partei lassen das zu! Was die Schamlosigkeit betrifft, wird man auch in Amerika fündig. Oder in Großbritannien, wo nun Boris Johnson, ein ausgewiesener Lügner, der es schon als Journalist mit der Wahrheit nie so genau genommen hat, Premierminister ist. Diesbezüglich ist es eine unglaubliche Ära, in der wir leben. Und hierzulande ist es tatsächlich möglich, dass der ehemalige Vizekanzler Pressekonferenzen am laufenden Band gibt, ...


Also Heinz-Christian Strache. . .
PAUL LENDVAI: . . . und man ohne das Wissen um die Ibiza-Affäre glauben könnte, dass das ein unglaublich ehrenwerter Mann ist.


Ist es heute leichter, dass sich Täter als Opfer darstellen?
PAUL LENDVAI: Es ist deshalb alles möglich, weil wir im Zeitalter der Digitalisierung leben, die unglaubliche Vorzüge hat, andererseits ist es auch viel leichter geworden, Lügen und Diffamierungen in Windeseile in aller Welt zu verbreiten. Und die einfachen Menschen glauben dann noch alles, was sie lesen. Auch die Jugend ist davor nicht gefeit.


Ist die Medienlandschaft problematischer geworden?
PAUL LENDVAI: Ganz sicher. Allein schon durch das Postulat der Schnelligkeit. Selbst mein ORF, für den ich so lange gearbeitet habe, muss sich da hüten. Da gibt es den brillanten Politologen Peter Filzmaier, der innerhalb kürzester Zeit den Succus aus einer Geschichte herausholt, aber mit der Geschwindigkeit eines Expresszugs, eines TGV, spricht. Nicht alle können leider mitkommen... Auch diese wirklich begabte Politikerin Beate Meinl-Reisinger, die geistreich ist und hervorragend formuliert: Wer versteht, was sie sagt, wenn sie so schnell spricht? Kreisky wusste schon, warum er so langsam sprach.


Weil ihn alle verstehen sollten?
PAUL LENDVAI: Ja, man kann nicht nur jene erreichen wollen, die ohnehin auf einer Linie mit einem selbst stehen. Man muss auch so sprechen, dass man die einfachen Menschen erreicht, weil sie sonst von anderen für ihre Zwecke missbraucht werden. Siehe Nationalsozialismus. Das Phänomen der Masse, wie leicht die Masse zu steuern ist, hat schon der französische Psychiater Gustave Le Bon Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben. Der nationalsozialistische Propagandist Josef Goebbels hat oft betont, dass er Le Bon sorgfältig gelesen hat. Und wenn Sie heute nach Italien schauen - dieser Matteo Salvini! Das ist doch ein Pocket-Mussolini. Und das ist sehr gefährlich.


Sie schreiben, dass in unserer schnellen Zeit alte Gewissheiten über Nacht verschwinden. Wie soll man damit umgehen?
PAUL LENDVAI: Letztlich geht es immer um den Kampf gegen Dummheit und Hass. Deshalb sind die verantwortungsvollen Medien heute wichtiger denn je, denn sie müssen die ganze Vielfalt der Welt zeigen. Ich lese derzeit Arthur Schnitzlers Tagebuch und staune, wie viele Parallelen es einerseits zu heute gibt, und wie froh ich andererseits bin, dass es doch nicht so schlimm ist wie damals. Das Böse gab es immer, aber heute kann es sich schneller verbreiten.


Ist der Mensch fähig, aus der Geschichte zu lernen?
PAUL LENDVAI: Österreich ist für mich ein wunderbares Beispiel dafür, dass man aus seiner Geschichte lernen kann und klüger wird. Ich hatte Beziehungen zur politischen Elite in allen Lagern, ausgenommen der extremen politischen Linken und politischen Rechten. Und ich habe gesehen, wie der langjährige Generalsekretär der ÖVP, Hermann Withal, der wegen seiner Härte von den Gegnern gefürchtet und von den Anhängern bejubelt wurde, im Parlament als Klubobmann oft die schärfsten Wortgefechte mit seinem Gegenüber, dem SPÖ Klubobmann Bruno Pittermann geführt hat. Als dieser schwer krank war, hat ihn Withalm jede Woche besucht. Es war eine zutiefst menschliche Geste, die erst viel später bekannt wurde. Niemand lernt ohne die historischen und persönlichen Erfahrungen. Niemand wird weise geboren.


Viele sind auch am Ende noch nicht klüger.
PAUL LENDVAI: Leider. Das kommt mir bei der ewigen Kritik an der EU auch so vor. Was bedeutet es, wenn das Visum wieder eingeführt wird? Wenn die Grenzen wieder hochgezogen werden? Wenn die Kinder nicht mehr ohne Weiteres im Ausland studieren können? Es gibt unglaublich viele Errungenschaften in dieser so außerordentlich oft beschimpften EU. Wirklich schätzt man etwas nur, wenn man es verloren hat. Das sieht man auch an den aktuellen politischen Zuständen in Italien oder Großbritannien. Politclowns und Demagogen spielen dort eine unglaublich wichtige Rolle, auch in den Medien. Schauen Sie sich doch Großbritannien an! Es ist unfassbar, mit welcher Demagogie die Deutschen oder Franzosen heute in britischen Medien beschimpft werden – und das in einer Zeitungslandschaft, die einmal maßgeblich war.


Sie haben eine an Wanderungen reiche Biografie und waren zweimal Flüchtling. 1944 sind Sie mit Ihren Eltern vor den Nazis geflohen, 1957 traten Sie die Flucht nach Österreich vor den Kommunisten an. In den Anfangsjahren in Österreich schrieben Sie unter Pseudonym, zum Schutz ihrer Mutter, die in Budapest geblieben war. Wie nannten Sie sich?
PAUL LENDVAI: In der „Presse“ war ich György Hollo - das war sehr dumm, weil die Ungarn sofort wussten, das kann nur ein Ungar sein. Dann schrieb ich als Arpad Becs, Becs ist Wien auf Ungarisch. Für englische und US-Zeitungen schrieb ich als Paul Landy. Das war bis 1962 so, bis meine Mutter, nachdem mein Vater gestorben war, nach Wien kommen konnte. Einmal traf ich in Washington einen Professor, der mir von den Artikeln eines gewissen George Hollo erzählte.


Sie zitieren in „Die verspielte Welt“ den Soziologen Max Weber, der in seiner berühmten Schrift „Politik als Beruf“ schreibt, dass für den Politiker eine der entscheidenden Qualitäten die Leidenschaft sei. Hapert es heutzutage daran?
PAUL LENDVAI: Weber hat auch gesagt, dass man nichts erreicht, wenn man nicht das Unmögliche erreichen möchte. Österreichs „Sonnenkönig“ Bruno Kreisky, eine Bezeichnung, die übrigens von meinem besten Freund Kurt Vorhofer stammt...


Kurt Vorhofer war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der Kleinen Zeitung. ...
PAUL LENDVAI: ... und der vielleicht beste unabhängige Journalist der Zweiten Republik. Jedenfalls ist Bruno Kreisky bis ins hohe Alter, selbst als er nur noch eine Niere hatte und halbblind war, ein leidenschaftlicher Mensch geblieben. Für den legendären Bundeskanzler war Macht dazu da, um etwas zu machen, etwas für die Menschen zu machen.


Die ungarische Philosophin Agnes Heller, mit der Sie befreundet waren, hatte ein Problem damit, dass Politiker wie Orban Populisten genannt werden. Denn Populisten, auch wenn sie Demagogen sind, würden sich nie aufseiten der Wohlhabenden stellen, sondern aufseiten des Volks. Politiker wie Orban aber hätten eine Oligarchie geschaffen, deren Wohlstand nur ihnen selbst zugute komme. Wie sehen Sie das?
PAUL LENDVAI: Agnes Heller hatte wie immer recht. Und es handelt sich bei diesen neuen Populisten um ein ganz eigenartiges System, in dem eine kleine Gruppe an der Spitze umgeben von Feudalismus ist, samt einer breiten Schicht von Dienern, die verdienen. Es sind all die kleinen und großen Oligarchen, die Länder wie Ungarn zugrunderichten.


Agnes Heller sagte auch: „Jeder will nur das Gute: Wenn er allein mit sich ist.“ Wie sehen Sie das?
PAUL LENDVAI: Um das beantworten zu können, muss man eine Philosophin sein, nicht Publizist.