In der Ukraine hat der Präsident weit mehr Vollmachten als in Österreich, doch um seine politischen Ziele umsetzen zu können, braucht er eine Mehrheit im Parlament. Die Wahl am Sonntag könnte für den neuen Amtsinhaber Wolodymyr Selenskyj ein wichtiger Schritt dahin sein. Umfragen sagen seiner Partei „Diener des Volkes“ etwa 40 Prozent der Stimmen voraus. In der Wirklichkeit existiert diese Partei derzeit eher nur auf dem Papier; natürlich gibt es Kandidaten für das Parlament, doch eine regionale Parteiinfrastruktur ist erst im Aufbau, eine klare weltanschauliche Ausrichtung fehlt.

Selenskyj selbst kann als Präsident nicht direkt in den Wahlkampf eingreifen, doch die Popularität seiner Partei hängt ausschließlich an seiner Popularität. Der 41-Jährige ist im ganzen Land unterwegs, um die positivere Grundstimmung, die mit seiner Wahl zum Präsidenten die Ukraine erfasst hat, für die Parlamentswahl zu nutzen. Bei seiner Tour tritt er in unterschiedlichen Rollen auf; beim EU-Ukraine-Gipfel in Kiew als Staatsmann, in Odessa bei der Übung „Sea Breeze“ unter Nato-Beteiligung als klarer Verteidiger der Ukraine, bei einem Besuch an der Front als Präsident, der das Leben der Ukrainer erleichtern will, und volksnah im Krankenhaus.

Kriegserklärung an die Korruption

Wirklich Furore machte aber sein Auftritt vor Zöllnern im Karpatenvorland. Anlass dazu war ein Schlag ukrainischer und britischer Behörden gegen den Zigarettenschmuggel. Beschlagnahmt wurden dreizehn LKW-Ladungen an der ukrainischen Westgrenze und zwei Container in der Hafenstadt Odessa. Die Zigaretten waren in illegalen Fabriken erzeugt worden, die Schachteln in einer Fabrik in Odessa gefälscht. Der massenhafte Schmuggel ist ohne korrupte Zollbehörden unmöglich.

Im Karpatenvorland nahm sich der ehemalige politische Kabarettist vor laufender Kamera die Zöllner zur Brust und forderte vier zur sofortigen Kündigung und den Rest dazu auf, „wie normale Menschen zu arbeiten“ oder zu kündigen. Doch das Feuern möglicherweise korrupter Beamter ist noch keine Reform. Ob Selenskyj dazu die Kraft und die qualifizierten Mitarbeiter auswählen wird, wird die Regierungsbildung zeigen.

Formell zählt das Parlament 450 Abgeordnete. Tatsächlich gewählt werden nur 423, weil auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim und in den Kriegsgebieten der Ostukraine nicht gewählt werden kann. Erschwert werden Prognosen durch das gemischte Wahlsystem. 225 Abgeordnete werden über Parteilisten gewählt, 198 in Einerwahlkreisen. Diese sind besonders anfällig für Stimmenkauf und Wahlbetrug. Stimmen die Umfragen, kann Selenskyjs Partei mit 110 bis 120 Mandaten über die Parteiliste rechnen. Ob gar eine „Absolute“ erreicht wird, hängt somit vom Abschneiden der Kandidaten der Partei „Diener des Volkes“ in den Einerwahlkreisen ab.

Freie Bahn für den neuen Präsidenten?

Sicher dürfte nach den Umfragen sein, dass Selenskyj und seine Partei das Parlament dominieren werden, wie das in der Ukraine seit der Unabhängigkeit vor fast 30 Jahren nicht der Fall war. An zweiter Stelle liegt mit großem Abstand die prorussische Partei „Für das Leben“. Sie fordert die politische Annäherung an Russland und direkte Verhandlungen mit den prorussischen Kräften in der Ostukraine. Als möglicher Koalitionspartner kommt diese Partei nicht infrage. Um Platz drei rittern drei Parteien: die „Vaterlandspartei“ der früheren Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko, die Partei mit dem Namen „Stimme“ des populären Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk und die Nationalisten des abgewählten Präsidenten Petro Poroschenko. Dessen Partei heißt nun „Europäische Solidarität“, ist kompromisslos gegen Russland und für den Beitritt zu Nato und EU. Auf Wahlplakaten ist Poroschenko nicht zu sehen, zu unpopulär ist der abgewählte Präsident nach wie vor.

Zur Wahl treten 65 Parteien und in den Einerwahlkreisen gut 1700 Kandidaten an. Doch nur fünf bis sieben Parteien haben die Chance, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Der Wahlkampf spielte sich vor allem in den großen TV-Sendern, Internet-Kanälen und sozialen Netzwerken ab. Die großen TV-Sender gehören allesamt Oligarchen und hatten klare politische Präferenzen, objektive Berichterstattung war Mangelware.