Donnerstag, 20. Juli 1944, Mitternacht. Im Hof des wuchtigen Bendlerblocks inmitten von Berlin, dem Sitz der deutschen Heeresleitung und des Oberkommandos des Ersatzheeres, marschiert ein Exekutionskommando auf. Der Lichtkegel eines Lastkraftwagens ist auf vier Offiziere gerichtet, die vor einen Sandhaufen gestellt wurden, um hingerichtet zu werden. Es sind die ersten Beteiligten an dem gescheiterten Aufstand gegen Adolf Hitler und das Nazi-Regime, die im Schnellverfahren zum Tod verurteilt wurden. „Es lebe das heilige Deutschland“, ruft Oberst Claus Schenk von Stauffenberg den tödlichen Kugeln entgegen.

Rechtzeitig zum Jahrestag des 20. Juli kündigte das deutsche Nachrichtenmagazin „Focus“ im Vorjahr in fetten Buchstaben eine besondere Meldung an, die Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg in ein neues Licht rücken soll. „Historiker räumt mit Kult um Offizier auf“, trumpfte das Magazin auf und griff dann ins Volle. Denn dieser Historiker Thomas Karlauf sehe auch gleich den Kult um den 20. Juli 1944 kritisch.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg

In der Tat. Wie zu erfahren ist, betreute der gelernte Verlagskaufmann einst als Lektor die Autobiografie von Österreichs Altkanzler Bruno Kreisky, auch die von Franz Josef Strauß. Aber das nur nebenbei. Karlauf fordert jedenfalls eine kritischere Betrachtung Stauffenbergs ein. Schließlich müsse man auch fragen, wie denn dieser Offizier zu den Vorkriegsereignissen ab den 30er-Jahren gestanden habe, zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, die eigentlich der Friedensvertrag von Versailles verboten habe. Wie zum Einmarsch ins Sudetenland. Nicht zu vergessen, war dieser Stauffenberg nicht zuerst ein Anhänger Hitlers und dessen anfänglicher Siege über Polen, über Frankreich. Und der Oberst und seine Mitstreiter wollten doch angesichts der näherrückenden Niederlage nur selbst die Macht übernehmen, folgert Karlauf, der schließlich gleich sein Buch anpries: „Stauffenberg. Porträt eines Attentäters.“ Es erschien heuer im März und erhielt Zuspruch und Widerspruch.

Die Antwort kam Ende Juni von Stauffenbergs Enkelin. Sophie von Bechtolsheim. Auch in Buchform: „Stauffenberg. Mein Großvater war kein Attentäter.“ Die studierte Historikerin begründet den Schritt aus der sonst von der Familie gepflegten Zurückhaltung in einem Interview mit der „Neuen Zürcher“ so: „Das Motto meiner Großmutter war immer, wir sind keine Berufshinterbliebenen. Aber ich finde, dass es für unsere Gesellschaft gefährlich ist, wenn durch Mutmaßungen moralische Vorbilder demontiert werden.“ Das Wesentliche, worum es Stauffenbergs Enkelin geht, ist die Begrifflichkeit, die Bezeichnung „Attentäter“: „Dabei denken wir an Terroristen, die mit Gewalt Aufmerksamkeit erregen wollten, an den IS, die RAF, Anders Breivik. Der Umsturzversuch vom 20. Juli war das Gegenteil davon: der Versuch, Terror und Tyrannei zu beenden.“

Sprachlich erfahren die Beteiligten an diesem Versuch, ein mörderisches Tyrannensystem zu beseitigen, eine stete Verurteilung. Nicht nur durch die Bezeichnung Attentat oder Attentäter. Die Männer des 20. Juli 1944 werden bis heute als Verschwörer bezeichnet. Als „Verschwörung“ erläutert der in den Nachkriegsjahren erschienene Brockhaus eine „geheime Verbindung zu unerlaubten Zwecken, besonders zur Zersetzung staatlicher Einrichtungen, zum Umsturz der Verfassung, zur Begehung politischer Straftaten“. Auch die gängige Abstempelung als „Verschwörer“ ist de facto also negativ besetzt. Wie auch das Wort „Putschversuch“, das im Wesentlichen den missglückten Sturz einer legalen Regierung umschreibt.

Stauffenberg selbst rechnete nicht damit, für den Versuch, Deutschland von Adolf Hitler und dessen verbrecherischem Regime zu befreien, großen Zuspruch zu erhalten: „Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird.“

Dieser aus einem alten schwäbischen Adelsgeschlecht stammende Berufsoffizier sympathisierte nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 durchaus mit den neuen Herren Deutschlands und dessen Führer Adolf Hitler. Mit der rigorosen Aufrüstung der Wehrmacht, Aufbau der Luftwaffe, Wiedereinführung der Wehrpflicht, den Bruch der Einschränkungen durch den Friedensvertrag von Versailles gelang es dem Diktator, die durchwegs konservativen Militärs zu ködern. Auch wenn die Spitzen des Heeres anfangs den skrupellosen Kriegsplänen ihres Obersten Befehlshabers kritisch gegenüberstanden, sie sogar daran dachten, ihn zu verhaften und vor Gericht zu stellen, die siegreichen Blitzkriege gegen Polen und Frankreich machten Umsturzpläne zunichte.

Stauffenberg gehörte zu den Bewunderern des Feldherrn Hitler: „Welche Veränderung in welcher Zeit.“ Ein Brief, den er aus Polen an seine Frau schreibt, enthält Sätze, mit denen heute versucht wird, Stauffenberg zu diskreditieren: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und Mischvolk. Ein Volk, das sich nur unter der Knute wohlfühlt.“


Die Ernüchterung kam spätestens mit dem Überfall auf die Sowjetunion, angelegt als unbarmherziger Vernichtungsfeldzug. Massenmorde an der Zivilbevölkerung, die Verfolgung der Juden schreckten Offiziere auf. Den Blitzsiegen folgen Niederlagen und irrwitzige Haltebefehle Hitlers. Einem guten Dutzend an Versuchen von Militärs, den Diktator zu töten, ihn zu erschießen oder sich mit ihm in die Luft zu sprengen, entging Hitler.


Der in Nordafrika schwer verwundete Stauffenberg, der sein linkes Auge und die rechte Hand eingebüßt hatte, wurde nun in seiner Schlüsselposition als Stabschef des Ersatzheeres auch zum Organisator des vorwiegend militärischen Widerstandes. Dem sich zivile Gegner der Hitler-Diktatur anschlossen, wie der frühere Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, der nach der Beseitigung des Nazi-Regimes als neuer Reichskanzler vorgesehen war.


Der Vorwurf, die Widerstandsgruppe hätte nicht beabsichtigt, Deutschland in eine Demokratie zu führen, mag stimmen. Es gab keinen endgültigen Plan für die Zukunft nach Hitler. Man war sich jedoch einig, den Krieg, in dem sich nach Landung der Alliierten in der Normandie und den Rückzügen in Russland eine Niederlage abzeichnete, zu beenden und zum Rechtsstaat zurückzukehren.


Der Umsturzversuch des 20. Juli misslang nicht zuletzt auch wegen der schlecht koordinierten und zaudernden Durchführung. Umso organisierter funktionierte der Rachefeldzug des Adolf Hitler, der nicht nur die Beteiligten und Mitwisser verfolgen ließ, sondern die Sippenhaftung ausrief. Die Familien der Widerstandskämpfer wurden verhört und inhaftiert, die Kinder zur „Umerziehung“ abgenommen.


Die in den Aufstand des 20. Juli Involvierten ließ Hitler vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilen. Diese Schauprozesse inszenierte der brüllende Blutrichter Roland Freisler als Demütigung der Angeklagten, die ihre Hosen halten mussten, weil man ihnen Hosenträger und Gürtel weggenommen hatte. Die Todesurteile wurden so vollzogen, wie es der Diktator verlangt hatte, an Haken, die jenen in Schlachthöfen glichen.

Hitler ließ die Hinrichtungen filmen und fotografieren. Fotos sah man dann auf seinem Tisch im Führerhauptquartier liegen. Der Volksgerichtshof verhängte 110 Todesurteile, manche Offiziere, wie Generalfeldmarschall Günther von Kluge und General Henning von Tresckow verübten Suizid.


Anerkennung erhielten die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 nach Ende der Nazi-Herrschaft eher zögernd. In der jüngeren Zeit ehrt sie Deutschland wie auch Österreich offiziell, errichtet Gedenkstätten und benennt Straßen oder Plätze nach ihnen. Doch nach wie vor wird Stauffenberg mit negativen Begriffen wie Attentäter und Verschwörer bezeichnet, als ob er sich gegen eine legale Staatsgewalt aufgelehnt hätte.