Die Abendsonne wirft lange Schatten am Strand von Eretria auf der Insel Euböa. Die meisten Liegen sind schon leer, nur wenige Badegäste rekeln sich in den letzten Sonnenstrahlen. Da kommt plötzlich Bewegung in die abendliche Idylle. Blaulichter blitzen. Ein Streifenwagen, gefolgt von einer Autokolonne fährt über die Uferpromenade. „Kyriakos kommt!“, ruft begeistert ein Bub, der dem Konvoi auf seinem Fahrrad voranstrampelt.

Kyriakos, so nennen ihn fast alle Griechen – jenen Mann, der gute Aussichten hat, die Parlamentswahl am heutigen Sonntag zu gewinnen und den Links-Premier Alexis Tsipras als Premierminister abzulösen. Vor dem Strandcafé Enzo stoppen die Wagen, Kyriakos Mitsotakis steigt aus. Der griechische Oppositionsführer krempelt die Ärmel seines weißen Hemdes hoch und beginnt, Hände zu schütteln. Beifall brandet auf. Viele wollen ein Selfie mit dem Premier in spe. Mitsotakis erfüllt jeden Fotowunsch. Eine Kellnerin, die ein Tablett balanciert, gerät so ins Gedränge, dass ihr die Cocktails umkippen und klirrend auf dem Pflaster landen. Ein Leibwächter versucht, die Glassplitter schnell mit ein paar Fußtritten aus dem Weg zu kicken. „Gouri“, sagt Mitsotakis lachend, was so viel bedeutet wie „Scherben bringen Glück“.

Der 51-Jährige spürt Rückenwind. Nachdem ihn im Jänner 2016 die Mitglieder der konservativ-liberalen Nea Dimokratia (ND) zum Vorsitzenden gewählt hatten, zog die Partei in den Meinungsumfragen am Linksbündnis Syriza von Premierminister Alexis Tsipras vorbei. Seither hat sie die Führung nie mehr abgegeben. Die Europawahl vor vier Wochen gewann die ND souverän mit 9,3 Prozentpunkten Vorsprung. Tsipras zog nach dem Debakel die regulär erst im Oktober fällige Parlamentswahl um drei Monate vor – in der Hoffnung, den Trend zu stoppen. Aber danach sieht es nicht aus. In manchen Umfragen kommt die Nea Dimokratia auf mehr als 40 Prozent Stimmenanteil, Syriza auf knapp 30. Das würde Mitsotakis eine bequeme absolute Mehrheit im nächsten Parlament sichern.

Kyriakos Mitsotakisvon der konservativen Nea Dimokratia darf sogar auf eine absolute Mehrheit hoffen
Kyriakos Mitsotakisvon der konservativen Nea Dimokratia darf sogar auf eine absolute Mehrheit hoffen © (c) APA/AFP/ARIS MESSINIS (ARIS MESSINIS)

Wahlkampf bis zum letzten Augenblick

Aber so weit ist es noch nicht. Mitsotakis’ größte Sorge ist, dass sich manche Anhänger seiner Partei am heutigen Sonntag an den Strand legen könnten, statt ihre Stimme abzugeben, nach dem Motto: Das Rennen ist ja eh schon gelaufen. „Wir können es uns nicht erlauben, auch nur eine einzige Stimme zu verlieren“, mahnt der konservative Politiker seine Zuhörer im Strandcafé Enzo. „Ich brauche ein klares Mandat, um mein Programm umzusetzen“, wirbt er.

Der in Harvard und Stanford ausgebildete Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler arbeitete als Analyst bei der Chase Bank und dem Beratungsunternehmen McKinsey in London, bevor er 2004 in die Politik ging. Als Ministerpräsident will er die Steuern senken und bürokratische Hürden abbauen, um Investoren anzulocken und so die lahme Wirtschaft des immer noch von der Krise gezeichneten Landes anzukurbeln. „Wir wollen Wachstum für alle Griechen“, ruft er dem Publikum in Eretria zu.

Ein verletztes Land

Dass Griechenland die Krise noch längst nicht überwunden hat, sieht man in Drapetsona, einer Vorstadt von Piräus. Viele der kleinen Schiffbaubetriebe und ihre Zulieferer haben die achtjährige Rezession nicht überlebt. Die Arbeitslosenquote ist fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Weil die Kaufkraft fehlt, leiden auch Einzelhandel, Gastronomie und Gewerbebetriebe. Der Wahlkreis Piräus 2, zu dem Drapetsona gehört, war eine Hochburg des Linksbündnisses Syriza. 2015 kam die Partei hier auf 42 Prozent. Bei der Europawahl waren es nur noch 27,5 Prozent, aber auch damit blieb Syriza stärkste Partei. Wenn Tsipras noch Anhänger mobilisieren kann, dann hier.

Mithilfe seiner Bodyguards bahnt sich der Noch-Premier einen Weg durch die Menge. „Drapetsona, Keratsini, Perama, Korydallos – das sind die Stadtviertel unseres Stolzes“, ruft er dem Publikum zu. „Sie sind das Gesicht eines Griechenlands, das nicht aufgibt, sondern Widerstand leistet.“

Tsipras zieht alle Register

Tsipras bestreitet seine Wahlreden vor allem mit düsteren Schreckensbildern. Mit zerfurchter Stirn malt er dem Publikum aus, dass dem Land der „Absturz in den Abgrund“ drohe, wenn Mitsotakis gewinnt; dass dann die „Oligarchie“ nach jenen Früchten greifen werde, die die Griechen nach den harten Opfern der Krisenjahre jetzt ernten könnten; und dass Mitsotakis „die Probleme des Volkes gar nicht verstehen“ könne, weil er „aus einer anderen Klasse kommt“.

Sprechchöre ertönen: „Du bist und bleibst Ministerpräsident!“ Aber der Jubel wirkt bemüht. Einpeitscher müssen das Publikum immer wieder anfeuern. Bei seinem Amtsantritt vor viereinhalb Jahren war Tsipras ein Hoffnungsträger für viele Griechen. Er versprach, die Kreditverträge mit den Gläubigern zu „zerreißen“, den Sparkurs zu beenden und die „illegalen“ Schulden des Landes einseitig zu annullieren. Nichts davon hat er umsetzen können. Inzwischen sind viele seiner Wähler tief enttäuscht. Mit seiner Konfrontationspolitik gegenüber den Gläubigern führte Tsipras das Land Mitte 2015 an den Rand des Bankrotts. Griechenland stürzte in die Rezession zurück. Um dringend benötigte Hilfskredite lockerzumachen, musste Tsipras noch härtere Spar- und Reformauflagen akzeptieren als seine Vorgänger. Laut einer Umfrage von Mitte Juni sehen sechs von zehn Befragten Griechenland unter Tsipras „auf dem falschen Weg“.

Trotz der schlechten Umfragewerte gibt sich Tsipras siegessicher. Die Chance, dass er die Wahl verliere, betrage „eins zu einer Million“, fantasierte der Premier jetzt in einem Interview des TV-Senders Star. „Das Rennen ist offen, wir können noch gewinnen, wenn wir daran glauben“, beschwört Tsipras auf seinen Kundgebungen das Publikum.
Aber selbst viele Syriza-Anhänger zweifeln am Sieg. „Dafür bräuchte es ein Wunder“, sagt einer der Zuhörer in Drapetsona resigniert, „und ich glaube nicht an Wunder.“ Nach einer Umfrage des Instituts Metron Analysis erwarten 82 Prozent der Befragten einen Sieg der konservativen ND. Nur sieben Prozent rechnen damit, dass Syriza die Wahl gewinnt.