Professor Kershaw, am 11. März ist mit "Achterbahn" ihr zweiter Band über die große Geschichte Europas im 20 Jahrhundert erschienen. Am 29. März sollten die Briten aus der EU austreten, doch wir erleben nun schon die Verlängerung der Verlängerung des Brexits, dessen politische Entstehung Sie beschreiben. Es sah ja nach Chaos und einem harten Schnitt mit ihrem Heimatland aus auf den letzten Metern...

IAN KERSHAW Es ist interessant, wie der letzte Gipfel in Brüssel ausgegangen ist. Aber jetzt wird es hoffentlich zu einem glücklichen Ende kommen. Es ist ein äußerst schwieriges politisches Problem in Großbritannien, wie und ob wir überhaupt zu einer Einigung finden können.

Einerseits will man eine durchlässige Grenze in Nordirland, andererseits aber nicht Teil der Zollunion oder des Binnenmarktes sein. Sehen sie überhaupt eine Lösung, wie man den Knoten durchschlagen könnte?

KERSHAW: Eines ist klar: Man kann nicht alle Leute befriedigen! Letztlich wird entweder Theresa May oder Jeremy Corbyn auf irgendeiner Seite seine Leute enttäuschen müssen. Das wird wohl May sein, weil sie bisher mehr oder weniger nur mit Rücksicht auf den rechten Flügel ihrer Partei gehandelt hat. Davon muss sie wegkommen und kompromissbereiter werden, was die zukünftigen Beziehungen zur EU angeht. Wenn man in der Zollunion bliebe, wäre das irische Problem zum Teil gelöst. Meine Vermutung ist, dass es zu einer Art von sanftem Brexit kommen wird und sich somit die Wünsche von einem Teil der Labour-Partei durchsetzen werden. May müsste dafür allerdings Konzessionen machen. Das wird ihr noch mehr Feinde einbringen in den eigenen Reihen und könnte durchaus die konservative Partei spalten. Das ist ein Risiko, aber sie muss auch bereit sein, für solch eine wichtige Frage ein Risiko einzugehen.

Hängt die fehlende Einigungsbereitschaft auch damit zusammen, dass die Frage im Referendum zu unterkomplex gestellt wurde?

KERSHAW: Ja, selbstverständlich! Es war eine Dummheit, dass diese anscheinend einfache Frage gestellt wurde. Ja oder Nein? Verbleib oder Austritt? Denn an sich ist das Thema so komplex wie kaum etwas anderes. Zudem haben einige konservative Politiker dieses Gefühl der Einfachheit der Entscheidung noch mit ihrer Aussage angefeuert, es werde einfach, mit der EU zu einem Handelsabkommen zu kommen und auch leicht, außerhalb der Zollunion mit anderen Ländern Handelsverträge auszuhandeln. Entweder waren das Lügen oder es waren Fehlkalkulationen.

Also mehr als nur Naivität?

KERSHAW: Es gab ja in der Tat Lügen bei der Kampagne. Das ist inzwischen bekannt. Oberflächlich war das also eine sehr leichte gestellte Frage, die aber eine äußerst komplizierte Frage beantworten sollte. Die Briten müssen nun langsam einsehen, dass diese Komplikationen Teil der Frage selbst sind. Es gibt keinen leichten Weg aus diesem Bündnis. Unsere Zugehörigkeit besteht seit 45 Jahren. Man kann nicht einfach von einem Tag auf den anderen alles abbrechen und abhauen. Diese Mitgliedschaft ist mit internationalen Verträgen verbunden und mit allen möglichen Konsequenzen für die britische sowie europäische Wirtschaft. Diese Lektion setzt sich nur langsam durch und erreicht einige Teilen der Bevölkerung überhaupt nicht. Das ist ein Großteil es Problems. Alle Lager haben sich auf bestimmte Positionen festgelegt und man wird immer weniger flexibel statt kompromissbereiter. Die Fronten sind härter geworden und der Abstand zwischen den Lagern größer. Das wird noch sehr schwierig, aber letzten Endes muss man jetzt irgendwie die Kurve bekommen.

Bei aller Verworrenheit in Westminster erlebt man den britischen Parlamentarismus dieser Tage als eine Art Hochamt der Demokratie. Verfolgen Sie die Debatten nicht auch mit politischem Genuss?

KERSHAW: Die Abgeordneten stehen in der Schusslinie der Kritik wie Großbritannien selbst. Ich verteidige die Parlamentarier weiterhin - wenn auch nicht alle. Der rechte Flügel der Konservativen ist Theresa May, ja dem ganzen Unterhaus, ein Dorn im Auge. Das ist natürlich eine Reflexion der Verhältnisse nach der letzten Wahl 2017. Denn die nordirischen Unionisten sind nun das Zünglein an der Waage. Es sind nur zehn Leute, die aber mehr oder weniger die Politik des gesamten Landes bestimmen. Das bringt das Parlament in Verruf. Andererseits gibt es bewundernswerte Parlamentarier wie Hilary Benn oder Yvette Cooper von Labour, die wirklich jeden Versuch unternommen haben, die Exekutivgewalt der Regierung zu kontrollieren. Das ist letztlich der Zweck eines Parlaments und seine Pflicht. Deswegen verzeihe ich dann auch das Verfahren. Das sieht von außen tatsächlich vielfach merkwürdig aus.

Müsste man den nicht reformieren?

KERSHAW: Wir haben natürlich diese altmodischen Konventionen. Wenn man nun aber sagt, die Zeit dafür sei vorbei und es müsse das ganze System umstrukturieren werden, widerspreche ich. Man muss sehr vorsichtig damit sein, alles über Bord zu werfen, weil wir gerade eine Krise haben. Wir hatten am 5. Mai 2011 die Chance ein Verhältniswahlsystem einzuführen, das wurde aber von einem großen Teil der Wähler in einem Referendum abgelehnt. Es besteht jetzt wenig Chance, dieses System einzuführen, doch wenn wir es hätten, würde das sicherlich zur Zersplitterung der beiden großen Parteien führen und zum Einzug der Rechtspopulisten ins Parlament. Es gibt also nicht nur Schattenseiten unseres Systems, es hat auch seine guten Seiten.

An der Entscheidung 2016 kann man die Schwachstellen eines Volksentscheids ablesen, etwa mangelhafte Aufklärung. Wir verweisen gerne auf die Schweiz, übersehen aber gelegentlich, dass dort Volksbefragungen und das Selbstverständnis, sich politisch zu informieren, lange eingeübt sind. Nun wird direkte Demokratie in ganz Europa ein wichtiges Element. Sollte man vorsichtiger sein bei der Einführung der direkten Demokratie?

KERSHAW: Wir befinden uns an einem Zeitpunkt unserer jetzigen Krise - die ja ein Nebenphänomen des Aufstiegs des Populismus ist -, an dem die Kluft zwischen dem Volk, jedenfalls wie es die Populisten definieren, und der Elite immer stärker betont wird. Es stellt sich irgendwann die Frage, ob man eine plebiszitäre oder eine repräsentative Demokratie hat. Zumindest theoretisch haben in den meisten Ländern Europas eine repräsentative Demokratie. Die plebiszitäre Demokratie in Form von Volksbefragungen ist eine direkte Herausforderung an die repräsentative Demokratie. Das hat uns Großbritannien deutlich gezeigt. Ich bin kein Freund von Referenden und finde es idiotisch, eine so komplizierte Frage so simpel zu stellen. Denn anders als bei einer allgemeinen Wahl gibt es beim Referendum selbstverständlich nur einen Dualismus mit einem entweder oder. Das spaltet das Volk automatisch. In Großbritannien haben wir nun ein gespaltenes Volk. Und weil das Parlament ja ein Widerspiegel des Volkes ist, auch ein gespaltenes Parlament. Deshalb muss man äußerst vorsichtig sein mit Volksabstimmungen.

Sehen wir diese Spaltung schon lange in Großbritannien oder nur jetzt deutlicher, weil sie aufgeladen ist durch die Frage?

KERSHAW: Latent hat es diese Spaltung natürlich schon lange gegeben. Diese tiefe Spaltung ist es aber ein relativ kurzfristiges Phänomen, angefeuert durch das Referendum und dessen Folgen. Wenn man nur ein paar Jahre zurückblickt, war in der Rangliste der politischen Prioritäten die Zugehörigkeit zur EU allenfalls auf Platz neun, zehn oder elf. Jedenfalls war sie nicht bedeutend. Jetzt würde diese Frage sicher den ersten Platz belegen. Die Aufwertung der EU-Zugehörigkeit zur höchsten Priorität kam durch das Zuwanderungsthema. Es fing mit der Osterweiterung 2004 bei uns an und wurde in den vergangenen Jahren wirklich kritisch. Weil man die Zuwanderung aus der EU nicht kontrollieren kann, solange man innerhalb der EU bleibt, wurde es zur Kernfrage eines möglichen Austritts.

Gibt es einen Unterschied in der Debatte zwischen EU-Ausländern und anderern Zuwanderern?

KERSHAW: In Großbritannien nennen wir alles Immigration, also die Freizügigkeit der Personen aus dem Binnenmarkt und die Zuwanderung aus dem Commonwealth. Statistisch wird das schon erfasst. So kommen rund 40 Prozent aus der EU und der Rest aus anderen Ländern. Interessanterweise gab es zuletzt aber eine Verschiebung. Es kamen mehr Leute aus anderen Ländern, wobei die Gesamtzahl kaum zurückging. Zum brisanten Thema wurde es nach der Osterweiterung, als auf einmal viele Leute zu uns kamen. Das waren innerhalb von fünf Jahren brutto gerechnet eine Million Menschen, meistens aus Polen. Man hatte aber nur 15.000 pro Jahr erwartet und so war das Land auf einen derartigen Zustrom nicht vorbereitet. Es wuchsen die Aversionen gegenüber den Zuwanderern und auch allgemein gegenüber der EU. Während man die Zuwanderungszahl aus anderen Ländern kontrollieren kann, ist das aus der EU mit der Freizügigkeit nicht möglich. Man meinte, man müsse das irgendwie begrenzen und als einzige Möglichkeit blieb, nicht mehr zur EU zu gehören.

Die Freizügigkeit ist eine der Grundprinzipien der EU. Haben sich die Gründungsväter und -mütter nicht genug Gedanken gemacht, vielleicht auch weil man nicht ermessen konnte, das sich das einmal in diese Dimension entwickelt?

KERSHAW: Im Gründungsvertrag 1957 ging es noch um die Freizügigkeit, Arbeit in einem anderen Land aufzunehmen. Das ist etwas anderes als die generelle Freizügigkeit von Personen. Mittlerweile können EU-Zuwanderer alle Rechte beanspruchen, die der Wohlfahrtsstaat Großbritannien bietet. Das Thema wurde maßlos übertrieben von der rechts stehenden Presse. Trotzdem steckt ein Stück Wahrheit darin, dass unsere Bedingungen plötzlich sehr großzügig erschienen. Und es kamen Leute aus anderen Ländern, die keine Arbeit hatten und den Wohlfahrtsamt in Anspruch nahmen und dieses Geld dann nach Hause schickten. Für Großbritannien war das nach der Osterweiterung ein schwerer Brocken. Wir haben – anders als fast alle anderen Länder mit Ausnahme von Schweden und Irland – den neuen EU-Mitliedern überhaupt keine Hindernisse in den Weg gestellt. Deutschland etwa hat gesagt, dass Osteuropäer all die Vergünstigungen erst nach sieben Jahren beanspruchen konnten. Es hätte verschiedene Wege geben, das Problem zu bewerkstelligen. Aber wir haben gesagt: Ja, kommen sie halt.

Steckt dahinter noch immer alter Empire-Großmut, nach dem Motto: Wir sind die Großen, wir schaffen das?

KERSHAW: Das ist nur ein geringer Teil der Erklärung. Zudem blühte damals die Wirtschaft und man brauchte diese Arbeitskräfte. Man sagte, wir werden Plätze für alle finden. Dabei wurde die regionale Beanspruchung von Schulplätzen, Wohnungen, Ärzten und ähnlichem unterschätzt. Die Leute kamen und verteilten sich nicht gleichmäßig über das Land, sondern konzentrierten sich in bestimmten Landesteilen, wo sie halt Arbeit fanden. Deshalb wuchsen die Aversionen besonders in diesen Gegenden, wurden verallgemeinert und als Verstimmung dann über die Anti-EU-Presse verbreitet. Zwei Drittel der Presse war immer gegen die EU eingestellt. Sie haben lokale Ereignisse so verbreitet, dass der Eindruck entstand, es sei ein riesiges Problem.

War es denn nicht real?

KERSHAW: In einigen Gegenden führte das schon zu einer echten Angst vor Identitätsverlust. Ich will das nicht übertreiben, aber ein Teil des wachsenden Unmuts gegenüber der EU wuchs schon nach der Osterweiterung. Dann kam die große Finanzkrise hinzu und die Austeritätspolitik der konservativen Regierung in London. Das hat vor allem die Unterbemittelten hart getroffen. Letztlich kam die Flüchtlingskrise in Europa, die Großbritannien zwar nicht unmittelbar betraf, doch man sah natürlich das Chaos Und dachte: Gut, dass unsere Grenzen noch intakt sind. Man sah die Menschen durch die offenen Schengen-Grenzen kommen, zu der wir ja nicht gehörten. Man war froh, das man die Grenze zumindest in Ansätzen einigermaßen kontrollieren konnte. Das galt auch für den Terrorismus.

In der Brexit-Debatte gewinnt man das Gefühl, die Briten verlieren langsam das Gefühl, eine Großmacht zu sein. Als Österreicher kann man diesen Phantomschmerz nachvollziehen. 1973 trat man mit Widerstand in die EU ein, konnte das Überlegenheitsgefühl noch pflegen und Sonderrechte ausverhandeln. Spüren die Briten beim Brexit zum ersten Mal, nicht mehr das mächtige Empire zu sein?

KERSHAW: Nicht zum ersten Mal. Aber ist wird immer deutlicher, dass man keine Weltmacht mehr ist. Die Großmacht-Assoziation ist noch vorhanden, aber ohne Empire. Es gibt auch keine Sehnsucht danach. Aber man spürt, dass wir mit einem nationalen Niedergang zu leben haben. Das ist bei allen ehemaligen Großmächten so, man fühlt sich dann ein bisschen gedemütigt. Es lässt sich nicht verallgemeinern, aber bei einigen Teilen der Bevölkerung ist dieses Gefühl des nationalen Niedergangs sicher vorhanden. Es ist ein Vergleich in den Augen von vielen Bürgern mit früheren Zeiten, als wir ein souveräner Staat waren. Dann haben wir unsere Souveränität abgegeben zu unserem Nachteil. Ich teile diese Meinung nicht, aber ich empfinde dieses Grundgefühl.

Sie sprechen in ihrem Buch "Achterbahn" an, das die Geschichte sehr von Persönlichkeiten gelebt hat, die der Geschichte eine elementare Wendung gegeben haben und sie geprägt haben. Die aktuelle Regierung der Briten kommt nicht besonders gut weg bei ihnen. Liegt es daran, dass diese prägenden Persönlichkeiten fehlen angefangen bei David Cameron? Personen wie zum Beispiel bei Michail Gorbatschow oder Margaret Thatcher oder Helmut Kohl?

KERSHAW: Gorbatschow war meiner Meinung nach die herausragende Figur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa. Es gab auch andere sehr wichtige Figuren, die ich auch im Buch nenne und die sie zum Teil genannt haben. Man könnte meinen, dass sich die Spielräume heutzutage verengt haben und damit die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte ein bisschen einschränkt sind. Cameron hat aber sehr persönlich viel versaut in der Brexit-Frage. Er war im negativen Sinne eine sehr bedeutende Figur nicht nur in Großbritannien, sondern auch für Europa. May hatte natürlich ein schweres Erbe anzutreten nach den Referendum, aber sie hat dann auch selber sehr schlecht weitergemacht. Sie setzte sich sofort auf die Seite der Hardliner und hat ihre rote Linie gezogen. Jetzt sieht man die Folgen.

Wie sieht man das?

KERSHAW: Man hätte sich denken können, das man bei einem Wahlausgang von 52 zu 48 Prozent auch Kompromisse eingehen muss. Das wäre eigentlich der naheliegende Weg gewesen. Stattdessen hat sie eine Seite sehr stark unterstützt und die anderen 48 Prozent völlig im Stich gelassen. Das war ihre Fehlpolitik und dabei ist sie bis jetzt auch konsequent geblieben. Deswegen ist es ja so schwierig einen Mittelweg oder Kompromiss zu finden zwischen May und Corbyn. Beides sind unbewegliche Figuren. Diese Frage hat die britische Politik ins Extreme gedrängt. Obwohl man in solch einer Situation eine gewisse Beweglichkeit braucht, hat man es mit diesen bornierten Figuren zu tun, die nicht wegkommen von ihren starren Positionen.

Sie nennen ihr Buch „Achterbahn". Das klingt nach Erdbeereis und quietschenden Kindern. Die Geschichte Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreiben sie aber durchaus krisenhaft, am Ende befinden wir uns sogar auf der unteren Seite der Achterbahn. Jedenfalls sind wir im Moment nicht gerade auf dem ansteigenden Ast. Ist der Titel nicht fast ein bisschen zu leichtfüßig für diese Geschichte?

KERSHAW: Ich biete ein Bild an für diese zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir kommen regelmäßig in Versuchung, die Geschichte nur aus einer westeuropäischen Perspektive zu betrachten. Wir sagen, es ging immer aufwärts mit Fortschritt, Friede und Wohlstand. Ich wollte den Horizont erweitern. Wenn man nach Osteuropa, auf den Balkan oder in den Mittelmeerraum blickt, sieht das schon anders aus. Aber selbst in Westeuropa gab es praktisch eine Krise nach der anderen. Wenn man zurückblickt in die 50er Jahre, war das eine krisengeschüttelte Zeit. Ich wollt mit dieser Metapher die Auf und Abs, das Hin und Her betonen, die fehlende Gradlinigkeit. Ich wollte Bewegung in das relativ statische Bild bringen, das man von dieser Zeit hat. Achterbahn ist keine perfekte Metapher, das gebe ich schon im Vorwort zu. Aber wenn man den Vorgängerband „Höllensturz" ansieht, gab es auch dort keinen Sturz in die Hölle. Man muss also nicht gleich an den Rummelplatz denken.

Wir sehen in den drei großen Krisen der EU auch ein Auseinanderdriften, nicht nur von Großbritannien. Dreißig Jahren nach dem Mauerfall in Berlin und dem Zusammenwachsen von Europa erkennen wir plötzlich viele Bruchlinien. Wurde die EU viel zu westeuropäisch gedacht von ihren Strukturen und Denkweisen. Sind wir vielleicht gar nicht so gemeinsam europäisch, wie wir lange geglaubt haben?

KERSHAW: Die EU war zwangsläufig eine westeuropäische Erfindung. Doch wie sie sich strukturell entwickelt hat, inklusive der unbewussten Einstellung gegenüber dem Osten, war schon herablassend. Ich komme zwar nicht aus Osteuropa, habe aber den Eindruck, dass sich die Menschen dort eher als EU-Bürger zweiter Klasse fühlen. Mit Ausnahme der sechs Gründungsstaaten kamen alle Länder mit eigenen Prioritäten zur EWG und später zur EU. Jeder wollte seine nationale Interessen wahrgenommen bekommen. Für Ost- und Zentraleuropäer stellte sich in erster Linie die Frage, ob sie Gelder bekommen, um ihre Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen. Das war etwas völlig anderes als das Zugehörigkeitsgefühl nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals musste man zunächst den Frieden sichern, dann die Wirtschaft und neue Demokratien aufbauen. Da war ein gewisser Idealismus dabei, besonders ausgeprägt in Westdeutschland aus naheliegenden, historischen Gründen. Dann kamen andere Länder hinzu wie Großbritannien und Dänemark, später auch Österreich. Ich war vor einigen Tagen in Dänemark und es war interessant zu sehen, wie ähnlich die Einstellung der Dänen und Briten zur EU ist. Auch wenn Dänermark nicht so EU-feindlich ist wie wir.

Ein Beispiel?

KERSHAW: Ich habe jemanden gefragt, warum hat sich Dänemark 1973 entschlossen hat, der EU beizutreten? Er hat spontan geantwortet: Es ging um den Preis von Speck! Das war völlig spontan und ich habe gelacht. Aber es war auch interessant, weil es für uns Briten ebenfalls eine wirtschaftliche Transaktion war, ob wir also besser dran sind drinnen oder draußen. Für die Dänen war es offenbar genauso. Da fehlte gänzlich dieser Idealismus, der am Anfang bei großen Teilen der Bevölkerung in den Gründungsländern vorhanden war. Wir mussten über die europäische Integration - zunächst natürlich im Kleinen - Wege finden, um einen neuen Weltkrieg für alle Zeit zu verbannen. Daraus entstand zunächst diese innere Integration dieser sechs Länder und wurde dann erweitert. Aber bei jeder weiteren Verhandlung und bei der großen Osterweiterung 2004 kamen ganz andere Interessen ins Spiel. Jetzt sieht man das dieses große Gefüge von 28 Ländern – gerade noch – nicht sehr geeignet ist, um zu schnellen, sinnvollen Lösungen zu kommen für die großen, bevorstehenden Probleme. Diese Struktur ist sehr reformbedürftig. Wie man allerdings überhaupt diese Reformen in der EU angehen und durchsetzen kann, ist die große Frage.

Im Moment haben Historiker gefühlt Hochkonjunktur. Liegt das daran, dass man sich ratlos fühlt und sich fragt, was die Historiker dazu sagen, welche Möglichkeiten wir haben und welche Parallelen es gibt. Ist der Brexit im Vergleich zu den Krisen die wir seit dem Weltkrieg zu bewältigen hatten, herausragend oder wird die Krise aus der Aktualität heraus überbewertet?

KERSHAW: Der Brexit ist eine einmalige Krise für die EU. Es ist das erste Mal, dass ein Land der Union den Rücken kehren möchte. Gut, Grönland ist auch ausgetreten. Aber es ist das erste Mal, dass ein großes Land austreten will. Das ist ein Schlag ins Gesicht für die EU insgesamt. Jedenfalls ist es kein Ruhmesblatt für die EU, wenn sie einen der wichtigsten Partner verliert. Die EU muss sich selbst fragen, wie ist es dazu kommen konnte? Die EU wird gerad von allen Seiten mir großen Schwierigkeiten und Problemen konfrontiert. In der Brexit-Frage gibt es bis jetzt immerhin Einigkeit unter den anderen 27 Mitgliedern. Aber es gilt nur in diesem einen Punkt. Dabei müsste man das auch in anderen Punkten anstreben, auch für alle Themen, die aus dem Brexit folgen. Wenn es Großbritannien saumäßig schlecht geht nach einem Hard-Brexit, der ja noch kommen kann, würde das ein Beispiel statuieren. Dann würden andere Länder nicht so schnell auf die Idee kommen, die EU zu verlassen. Wenn es Großbritannien gut ginge, könnten andere Länder sagen, eigentlich wäre es nicht schlecht, die EU zu verlassen. Dazu gehört in erster Linie der Gründungsstaat Italien. Die EU muss in ihrem eigenen Interesse Wege finden, sich selbst zu reformieren. Denn wenn sie so weiterwurschtelt wie bisher, könnte der Brexit wirklich schwerwiegende Folgen für die EU haben - und nicht nur für Großbritannien.