Zu Beginn der nun wohl entscheidenden Brexit-Tage in London droht Theresa May der jähe Kollaps ihrer Regierung. Bei Kabinettsbesprechungen am Wochenende warnten beide Seiten im tobenden Streit, dass sie der Premierministerin das Vertrauen entziehen würden, sollte sie „die falsche Entscheidung“ treffen.

Zugleich wurde im Regierungslager bitter darüber gestritten, ob May versuchen sollte, noch vor Ende der Woche zu Neuwahlen aufzurufen. Kritiker einer solchen Aktion fürchten, bei Neuwahlen könnten die Konservativen „total vernichtet“ werden. Die Labour-Opposition will dagegen nicht ausschließen, dass sie diese Woche einen erneuten Misstrauensantrag gegen die Regierung im Unterhaus einbringt.

Das Dilemma Mays, das ihr nicht mehr viele Möglichkeiten offenlässt, erklärt sich aus dem dreifachen Scheitern ihres mit der EU geschlossenen Austrittsabkommens im Parlament. Dieses Abkommen will sie offenbar am Dienstag in irgendeiner Form ein viertes Mal zur Abstimmung bringen – so Speaker John Bercow eine solche Wiedervorlage erlaubt.

Sollte es ihr wider Erwarten gelingen, „ihren“ Deal doch noch durchzubringen, würde dies zum „geordneten Austritt“ Großbritanniens aus der EU am 22. Mai führen. Andernfalls würde London auf einen „No Deal“-Exit am 12. April zusteuern. Wollten die Briten die EU um eine Fristverlängerung bitten, müssten sie dafür binnen acht Tagen einen triftigen Grund vorbringen und sich bereit erklären, an den Europawahlen im Mai teilzunehmen.

Das Unterhaus sucht weiter nach Alternativen

Auf eine solche Fristverlängerung, möglicherweise bis ins nächste Jahr hinein, hoffen viele Parlamentarier, die am heutigen Montagabend erneut versuchen wollen, sich auf eine Alternative zu Mays hartem Kurs zu einigen. Letzte Woche war ihnen das noch nicht gelungen. Aber diesmal glauben sie, dass eine Mehrheit für einen „Softie“-Brexit – mit Verbleib in einer Zollunion mit der EU und eventuell im EU-Binnenmarkt – und vielleicht sogar für ein neues Referendum greifbar nahe ist. Sollte Mays eigener Deal ein letztes Mal scheitern und sie im Anschluss eine Zollunion und Teilnahme an den Europawahlen akzeptieren, wollen ihr die Brexiteers in Kabinett, Regierung und Fraktion die Gefolgschaft aufkündigen. Sollte sie aber einem „No Deal“-Abgang zustimmen, würde die andere Hälfte ihrer „Truppen“ rebellieren. Das haben ihr pro-europäische Top-Minister am Wochenende klargemacht.

Unklar ist, was passieren würde, wenn sich die angezählte Premierministerin weigern sollte, einen Mehrheitsbeschluss des Unterhauses für einen Alternativplan umzusetzen. Fraglich ist, ob es dem Parlament in einem solchen Fall gelingen würde, einen solchen Plan noch rechtzeitig per Gesetz zu erzwingen, und ob May die Königin auffordern könnte, einem entsprechenden Gesetz die Unterschrift zu versagen.
Ausgeschlossen ist auch nicht, dass Theresa May diese Woche noch nach Parlamentsneuwahlen ruft. Dafür wäre allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus erforderlich. Und vielen Tories graut vor einem solchen Szenarium. Die Konservativen wüssten nicht, mit was für einem Brexit-Plan sie in solche Wahlen ziehen sollten. Und in den letzten Umfragen liegen sie fünf Prozentpunkte hinter Labour zurück.

Ex-Tory-Premier Sir John Major riet am Sonntag zu einer parteiübergreifenden „Regierung der nationalen Einheit“. Viele Politiker fürchten eine Welle der Empörung im Land, falls „kein richtiger“ oder gar kein Brexit zustande käme. Am letzten Freitag, dem ursprünglichen Brexit-Termin, hatten sich vor dem Parlament Tausende von Demonstranten eingestellt.

Nigel Farage, der frühere Ukip-Vorsitzende, hatte der wütenden Menge erklärt, Westminster sei nun „Feindesland“, weil die Abgeordneten den Brexit „verraten“ hätten. Starke rechtsradikale Verbände nahmen an den Protesten teil. Ein Demonstrant, der mit einer riesigen England-Fahne aufs Dach des St-Pancras-Bahnhofs kletterte, brachte am Samstagmorgen den gesamten Eurostar-Verkehr vom und zum Kontinent zum Erliegen.