Nicaragua kommt seit fast einem Jahr nicht zur Ruhe. Im April 2018 begannen die Massenproteste gegen die sandinistische Regierung um Daniel Ortega. Die Aufstände hatten sich an einer Pensionsreform und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit entzündet. Das Volk erhob sich gegen das autoritäre Regime, doch dieses schlug zurück. Die Demonstranten werfen der Regierung systematische Gewaltanwendung vor. Dabei waren Daniel Ortega und seine Leute einst die Helden der Linken. 1979 hatten die Kämpfer der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN in Nicaragua den Diktator Anastasio Somoza gestürzt, der mit seiner Familie das Land jahrzehntelang ausgebeutet hatte. Die gleichen Vorwürfe treffen heute Ortega.

Frau Belli, Sie schrieben in einem Gedicht: „Man sucht sich das Land seiner Geburt nicht aus und liebt doch das Land, wo man geboren wurde“. Gilt das noch für Sie?

GIOCONDA BELLI: Ich bin mit Nicaragua mehr denn je verbunden. Seit 2013 bin ich wieder zurück, davor habe ich mehrere Jahre in Los Angeles gelebt. Seit April 2018 versinkt Nicaragua in Tyrannei und Diktatur. 325 Menschen wurden im Vorjahr zwischen April und Oktober getötet. Die meisten von ihnen waren jung. Mehr als 700 sind in Haft, mehr als 30.000 haben das Land verlassen. Es ist eine todtraurige Situation. Andererseits ist es auch eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, weil die Demonstrationen ein Zeichen dafür sind, dass sich die Bevölkerung nicht mehr alles gefallen lässt.

Erst Venezuela, dann Nicaragua?

GIOCONDA BELLI: Ja, so sieht es aus. Wenn Nicolas Maduro fällt, da bin ich mir sicher, muss auch Ortega gehen. Seit 2007 ist er durchgehend die zentralisierte Macht. Es war klar für uns, dass er davon nicht ablässt. Bei den letzten Wahlen gab es viele Manipulationen, so haben wir die Chance verloren, die Situation im Land durch Wahlen zu ändern. Aber auch wenn die Polizei versucht, die Proteste nicht zuzulassen: Es wird weiter demonstriert. Denn wir haben ein Recht dazu. Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo, die Vizepräsidentin, werden von den Vereinten Nationen sanktioniert, weil sie die Opposition unterdrücken. Auch die EU verurteilt Ortegas Herrschaft. Das macht uns hoffnungsvoll. Wir hören nicht auf, ihn zum Rücktritt aufzufordern.

Sie sagten einmal, dass Sie niemals geglaubt hätten, dass ein Gedicht, das Sie 1978 während der Somoza-Diktatur in Nicaragua schrieben, wieder aktuell werden könnte. Haben Sie ein Deja-vu?

GIOCONDA BELLI: Es ist unfassbar und unwirklich, dass Nicaragua von einer Diktatur in die nächste geschlittert ist. Wie viel Tyrannei kann man in einem Leben ertragen? Nach all den Kämpfen, die wir für Freiheit geführt haben, ist es umso unglaublicher, dass es jetzt dieses korrupte und unterdrückende System von Ortega gibt, der einst doch mitgekämpft hat gegen den Tyrannen Somoza. Ortega kommt mir vor wie ein schlechter Ehemann, der seiner Frau, in dem Fall dem Volk, sagt: Ich gebe dir zu essen, aber du tust gefälligst, was ich sage!

Sie sind das Aushängeschild der linken sandinistischen Freiheitsbewegung in Nicaragua, die 1979 den rechten Diktator Somoza stürzte: Was blieb denn von der Revolution?

GIOCONDA BELLI: Die Revolution wurde verraten. Ortega ist weit entfernt von einer gerechten Regierung, in all den Jahren an der Macht. Er hat sich mit dem großen Geld in Nicaragua eingelassen. Männer und Frauen, die in den 90er-Jahren Sandinisten waren, wurden sanktioniert: Denken Sie nur an Ernesto Cardenal und Sergio Ramirez. Die Dichter wurden sukzessive kaltgestellt. Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin Präsidentin des Pen Center in Managua. Als Ernesto Cardenal Ortegas Amtsführung und Lebensstil öffentlich kritisierte, wurden seine Konten gesperrt.

„Wir folgen dem Weg Gottes für unser Land“, sagte Vizepräsidentin Rosario Murillo, als ihre Paramilitärs die Kirche San Juan Bautista in Masaya attackierten und die Priester als Terroristen anklagten. Sie haben Murillo einmal Goebbels genannt – warum?

GIOCONDA BELLI: Die Verbrechen von Ortega und seine Frau sind sogar noch grausamer als die von Somoza. Murillo spricht ständig über die Menschenrechte und verwendet immer und überall Gott und will allen weismachen, dass sie etwas Messianisches an sich habe. Es herrscht schon lange ein Orwell’sches System in Nicaragua: Nur wer pariert, bekommt etwas. Die Vizepräsidentin verzerrt ungeniert die Wirklichkeit und erklärt der Bevölkerung, dass die Demonstranten von den USA geködert, gekauft und unterstützt werden. Die Presse wird mundtot gemacht. Deshalb nenne ich Rosario Murilla, die Vizepräsidentin, Goebbels. Sie ist eine ganz schlimme Hetzerin, die die Sprache für ihre Propaganda missbraucht.

Warum ist die lateinamerikanische Literatur immer politisch?

GIOCONDA BELLI: Weil man hier zwangsläufig gezwungen ist, am politischen Leben teilzuhaben. Die Politik in Lateinamerika klopft täglich an die Tür. Man hat keine Wahl, denn es geht ständig um den Kampf um Gerechtigkeit, um eine freie Justiz, um Meinungsfreiheit. Man hätte kein Herz, wenn man sich nicht politisch engagieren würde. Die Wirklichkeit fordert das.

Die Sprache als Waffe?

GIOCONDA BELLI: „Im Anfang war das Wort“, das steht schon in der Bibel. Meine Generation ist in der Diktatur aufgewachsen. Unser einziges Mittel gegen die Macht ist die Sprache.

Warum sind Sie von Los Angeles weg und zurück nach Managua?

GIOCONDA BELLI: Ich fühle mich wohl, wieder in meiner eigenen Sprache zu leben. Aber drei meiner vier Kinder leben in den Staaten, und ich besuche sie von Zeit zu Zeit. Mittlerweile ist es aber besser, nicht in den USA zu sein: Allein schon, um sich nicht täglich mit Donald Trump auseinandersetzen zu müssen oder ihm ausgesetzt zu sein. Nicaragua rettete mich vor Trump.