Monsieur Peschanski, abgesägte Erinnerungsbäume, Hakenkreuze auf den Porträts der Nationalheldin Simone Veil, die Aufschrift „Jude“ auf Deutsch und mit gelber Farbe auf dem Schaufenster eines Bagel-Restaurants. Bei der Demonstration der Gelbwesten ist der Philosoph Alain Finkielkraut am vergangenen Samstag in Paris verbal attackiert und als „Drecksjude“ beschimpft worden. Was ist los in Frankreich?

Denis Peschanski: Was sich gerade abspielt, ist nicht neu, sondern eine Konstante in der Geschichte Frankreich. Es gibt ein antisemitisches Kontinuum seit Jahrhunderten, das je nach Zeitgeist andere Formen annimmt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts ist es ein christlicher Antisemitismus, der im Lauf der Zeit neue Formen annimmt. Während des Vichy-Regimes glaubt man, bei den Juden, den Kommunisten, Freimaurern und Ausländern antifranzösische Kräfte auszumachen. Ab den 60er-Jahren importiert Frankreich den israelisch-palästinensischen Konflikt. Gegenwärtig befindet sich die französische Gesellschaft in einer Krise, die sich in der sozialen Bewegung der Gelbwesten äußert, die letztlich mit der total überraschenden Wahl von Emmanuel Macron 2017 zusammenhängt.

Geboren 1954 in Paris, er ist  Direktor des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (CNRS) an der Pariser Sorbonne und Experte für Geschichte und Gedenken des Zweiten Weltkriegs
Geboren 1954 in Paris, er ist Direktor des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (CNRS) an der Pariser Sorbonne und Experte für Geschichte und Gedenken des Zweiten Weltkriegs © Adrien Lachapelle

Inwiefern ist seine Wahl ein Auslöser dieser Krise und damit einer antisemitischen Enthemmung?

Weil sie einen verblüffenden Hass ausgelöst hat. In Frankreich mag Politik grundsätzlich sehr konfliktreich ausgetragen werden, aber jetzt haben die Auseinandersetzungen die Form von Hass angenommen.

Welche Rolle spielen die Gelbwesten dabei? Von Anfang an gab es antisemitische Vorfälle, von Anfang an hieß es, das seien nur Ausnahmen ...

Der Antisemitismus tritt in einem Klima an die Oberfläche, da Verschwörungstheorien fröhliche Urständ feiern. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Verschwörungstheorien, die sich in der gesamten Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuen, bei den Gelbwesten doppelt so viele Anhänger finden. Dazu gehört auch die Theorie von der zionistischen Weltverschwörung.

Wie erklären Sie sich, dass die Rechtspopulistin Marine Le Pen versucht hat, ihre Partei von solchen Tendenzen zu säubern, die nun wiederum ziemlich ungeschminkt bei den Linkspopulisten auftauchen?

Marine Le Pen hat beim Front National aufgeräumt aus einem einfachen Grund: Sie hat begriffen, dass sie sich im rechten Spektrum der Konservativen ansiedeln muss, nicht im rechtsextremen, wenn sie irgendwann an die Macht kommen will. Es ist Kalkül. Die Italiener haben ihr das vorgemacht. Das italienische Beispiel ist von einer ungeheuren Tragweite für alle europäischen Demokratien, weil es beweist, dass man heute mit ausländerfeindlichen, komplottistischen und ultrarechten Überzeugungen an die Macht kommen kann.

 Alain Finkielkraut sieht in der deutschen Flüchtlingspolitik seit 2015 die wesentliche Ursache für gravierende Fehlentwicklungen in Europa. „Ohne Angela Merkels ,Wir schaffen das!' und die Million Einwanderer, die Deutschland 2015 aufgenommen hat, hätte es keinen Brexit gegeben“, sagte der 69-Jährige in einem Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Die Grenzöffnung habe viele Europäer verunsichert und für einen „pathologischen Populismus“ überall in Europa gesorgt. Europa sei nicht berufen, eine multikulturelle Gesellschaft zu werden, sondern müsse die Europäer vielmehr schützen, sagt der Philosoph. Die Deutschen hätten sich mit dieser Politik von der Nazivergangenheit freikaufen und zu einem moralisch tadellosen Volk werden wollen. Tatsächlich habe es sich aber um eine Mischung aus „extremem Moralismus und wirtschaftlichen Interessen“ gehandelt. Den Preis zahlten überall in Europa die Juden, die zum ersten Opfer eines neuen radikalen Islamismus geworden seien, der sich nach Finkielkrauts Ansicht nicht zuletzt aus der unregulierten Zuwanderung speist. Auch Frankreichs Antisemitismus wurzele nicht in einer Neuauflage des Faschismus, sondern sei Ausfluss eines islamistischen Extremismus. Finkielkraut kritisiert bereits seit Jahren Frankreichs Linke, die den neuen Antisemitismus nicht als Folge der arabischen Einwanderungsgesellschaft und als islamistischen Antisemitismus wahrnehmen will. Hat er recht?

Es gibt ein Richtungspapier, in dem der Politologe Pascal Boniface den französischen Sozialisten vor 15 Jahren empfiehlt, mit der traditionellen zionistischen Linie der Partei zu brechen. Aber man muss sehr vorsichtig sein mit Verallgemeinerungen. Die Mehrheit der französischen Linken ist keinesfalls auf dieser Linie. Bei den extremen Linken der France Insoumise sieht das anders aus. In den Wahlkreisen mit großen Einwandereranteilen kaufen sich viele Abgeordnete oder Bürgermeister den sozialen Frieden mit, vorsichtig ausgedrückt, ambivalenten Haltungen.

Reicht eine große Demo wie am vergangenen Dienstagabend in Paris, um den Antisemitismus in Frankreich zu stoppen?

Das reicht nicht, ist aber ein sehr deutliches Signal, weil es äußerst selten ist, dass fast alle Parteien dabei sind. Nach den Morden an französischen Juden waren fast nur Juden auf der Straße und ein paar Vorzeige-Gois. Diese Demos waren sehr, sehr deprimierend, weil sie gezeigt haben, dass diese Frage nur die Juden und nicht alle Franzosen betrifft.

Sie sind ein Spezialist für historische Erinnerung. Ist der Holocaust schon vergessen?

Es gibt Erinnerungsregime, die sich ablösen. In Osteuropa spielt das Ende des Kommunismus und der Zusammenbruch des Sowjetregimes heute eine größere Rolle. Insgesamt nimmt auch in Frankreich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht mehr den dominierenden Platz ein.

Kann man unsere Epoche, wie Präsident Emmanuel Macron es tut, mit den Dreißigerjahren vergleichen?

Ich bin als Historiker vorsichtig mit solchen Vergleichen. Natürlich gibt es Ähnlichkeiten wie den Ausschluss und die Diskriminierung von Andersdenkenden, eine nationale Identitätskrise. Deshalb kann ich durchaus nachvollziehen, dass Emmanuel Macron damit ein Alarmsignal geben und klarmachen will, dass wir uns in keiner sehr friedlichen Periode befinden. Beängstigend ist, dass wir den Sockel gemeinsamer Werte in Europa, die seit der Französischen Revolution galten, verloren haben.

Der französische Innenminister Christophe Castaner spricht vom Gift des Antisemitismus. Was ist das Gegengift?

Die schulische Erziehung, die Regulierung der sozialen Netzwerke, wo es keine Hemmschwelle für Hass gibt, und das gesteigerte Verantwortungsbewusstsein all derjenigen, die in der Politik, in den Medien an den gemeinsamen Regeln des Zusammenlebens arbeiten. Wir können nicht weitermachen wie bisher: Die Politiker müssen mit dem Hass aufhören. Man darf anderer Meinung sein. Aber Hass geht nicht. Auch dürfen wir nicht hinnehmen, dass die Puppe des Präsidenten gehängt oder verbrannt wird. Das hat es in der Republik bislang noch nicht gegeben.