Aus dem hintersten Winkel Syriens kommen dieser Tage ungewöhnliche Bilder. Scharenweise ließen sich demoralisierte IS-Gotteskrieger von Soldaten der „Syrisch-Demokratischen Kräfte“ gefangen nehmen und in Bussen abtransportieren. Hunderte tief verschleierte Frauen und Kinder flüchteten zu Fuß durch die Wüste, um sich hinter den Linien der arabisch-kurdischen Angreifer in Sicherheit zu bringen. Seit dem Wochenende läuft nun der entscheidende Sturmangriff auf die letzte syrische IS-Bastion Baghouz, in der sich noch 400 bis 600 Bewaffnete verbarrikadiert halten sollen.

Angesichts dieses Massenexodus bekamen dieser Tage viele Regierungen - darunter Deutschland, Frankreich, Belgien, Tunesien und Marokko - Post aus Washington. Sie sollen ihre Fanatiker zurücknehmen und vor nationale Gerichte stellen, forderten die Amerikaner. Denn die Kurden möchten ihre brisanten Gefangenen möglichst rasch wieder loswerden. Sie haben weder die Mittel noch die Motivation, die Terrorverdächtigen vor Gericht zu stellen oder jahrelang in ihren Gefängnissen wegzusperren. Und so wächst in den Augen des Pentagon die Gefahr, die nordsyrischen Verbündeten könnten die IS-Verbrecher schon sehr bald wieder laufen lassen. Noch im Februar will Donald Trump den endgültigen Sieg über den IS in Syrien ausrufen. Bis Ende April sollen dann die meisten der amerikanischen Spezialeinheiten abrücken.

"Wenn Gefängnis, dann eines, wo man Rechte hat"

Etwa 1000 Jihadisten aus über 50 Nationen haben die Kurden inzwischen in Gewahrsam, darunter 40 Deutsche, wie der 28-jährige Martin Lemke aus Zeitz in Sachen-Anhalt, der beim IS-Geheimdienst Amnijat an Gräueltaten beteiligt gewesen sein soll, und der Deutsch-Algerier Fared Saal aus Bonn. Der 29-jährige machte mit einem infamen Propagandavideo von sich reden, als er die Leichen syrischer Soldaten schändete und sie als „dreckige Kuffar“, also als Ungläubige, und als „Schweine“ beschimpfte. Die deutsche Justiz ermittelt gegen ihn wegen Kriegsverbrechen. Trotzdem will er „definitiv“ zurück, erklärte er kürzlich in einem Interview mit dem ARD-Weltspiegel. „Wenn es nun Gefängnis sein muss, dann natürlich bevorzuge ich ein Gefängnis, wo man gewisse Rechte hat. Menschenrechte etc.“

Ähnlich wie die Männer, stammen auch die 2000 internierten Frauen und Kinder aus aller Herren Länder. „Ich kam aus humanitären Motiven, wusste damals nicht viel über den IS“, beteuerte eine voll verschleierte 46-Jährige aus Kanada einem französischen Fernsehteam. In ihren Augen habe der IS anfangs viele gute Dinge getan. Heute allerdings denke sie, dass dies „die negativen Taten nicht aufwiegt“. Andere Frauen behaupteten, ihre Männer hätten mit den IS-Gräueln nichts zu tun, sie hätten lediglich als Köche, Sanitäter oder Mechaniker gearbeitet.

Die meisten Herkunftsländer sträuben sich, ihre Jihadisten zurückzunehmen. Gegen viele IS-Gefangene lägen daheim Haftbefehle vor, weiß Omar Abdelkarim, Außenbeauftragter der Syrischen Kurden. Trotzdem übernehme kein Land die moralische und juristische Verantwortung. In Tunesien gab es bereits vor zwei Jahren Aufruhr in der Bevölkerung, die ihre hochgefährlichen Landsleute nicht wiedersehen möchte. Auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien zögern. Strafverfolger befürchten, nicht genügend Beweise und Zeugenaussagen aus Syrien zusammentragen zu können, die für eine Verhaftung reichen. Andere Terroristen, deren Untaten gut belegt seien, müssten später über Jahre in Haftanstalten isoliert werden, damit sie ihre Mitinsassen nicht radikalisierten.

Der IS bleibt eine große Gefahr

Das einstige „Islamische Kalifat“ ist keineswegs besiegt. Während die Gotteskrieger auf syrischer Seite vor dem militärischen Zusammenbruch stehen, gewinnen sie im Irak wieder an Stärke. Die Zahl der Anschläge steigt. In Mosul und der Ninive-Ebene tauchten kürzlich erneut schwarze IS-Flaggen auf. Studien schätzen die Zahl der verbliebenen Jihadisten auf 20.000 bis 30.000. Auch der selbst ernannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi ist noch immer nicht gefasst. Nach Informationen des Londoner „Guardian“, der sich auf Geheimdienstkreise beruft, soll es aber am 10. Januar zu einer Meuterei gegen den IS-Chef gekommen sein. Bei der Schießerei zwischen abtrünnigen ausländischen Jihadisten und der Leibwache des IS-Chefs starben zwei Menschen. Anschließend verschwand Al-Baghdadi in den wüsten Weiten des Grenzgebietes zwischen Syrien und Irak.