Im Jahr 2008 hat Friedrich Merz ein Buch geschrieben. „Mehr Kapitalismus wagen“ sollte mitten in der weltweiten Finanzkrise ein Aufruf an seine Christdemokratische Union sein, sich vor lauter Furcht nicht völlig der Sehnsucht nach mehr Staat hinzugeben. Es war damals eine klare Spitze gegen Kanzlerin Angela Merkel. Die CDU-Chefin, die wegen ihres Führungsstils seit vielen Jahren parteiintern den Spitznamen „Mutti“ trägt, versprach in diesen unsicheren Zeiten mehr Staat, mehr Regulierung für die entfesselten Finanzmärkte, weniger Wettbewerb und traf damit den Nerv der meisten Deutschen. Es wurde eine letzte Kampfansage an seine ewige Rivalin. Doch Merz verlor auch diesen letzten politischen Wettstreit gegen Merkel.

Pikant war vor allem das Finale: Die Buchvorstellung in der Bundespressekonferenz in Berlin musste damals verschoben werden, weil Merkel kurzfristig vor die Hauptstadtmedien trat, um über ihre Lösungsvorschläge zur Finanzkrise zu berichten. Unklar ist bis heute, ob es eine bewusste Demütigung war oder purer Zufall. Danach wurde es politisch still um Merz. Er zog sich als Wirtschaftsanwalt zurück, saß darüber hinaus in zahlreichen Aufsichtsräten. Bis zu Merkels Ankündigung vor vier Wochen, den Parteivorsitz nicht noch einmal anzustreben.

Grundsätzlicher Richtungsstreit

Insofern ist die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden der CDU heute in der Hamburger Messe mehr als die reine Lösung der Nachfolgefrage für Merkel. Es geht um einen grundsätzlichen Richtungsstreit innerhalb der konservativen Partei und um die Frage: Kann sich Merkels liberaler Flügel mit der Parteigeneralsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer durchsetzen oder gewinnt der wirtschaftsliberale Flügel um den ehemaligen Fraktionschef Friedrich Merz? Zudem gibt es mit Jens Spahn noch einen weiteren offiziellen Kandidaten. Der Gesundheitsminister gilt allerdings mittlerweile nur noch als Außenseiter, wenn auch als Vertreter des wertekonservativen Flügels.

Daneben haben sich sieben weitere Personen beworben, deren Bewerbungen allerdings als aussichtslos gelten. Zudem müssen die Kandidaten beim Bundesparteitag auch noch von einem Delegierten formell für den Vorsitz vorgeschlagen werden.

Dreikampf gilt als offen

Der Dreikampf gilt noch immer als weitgehend offen, vor allem das Rennen zwischen Kramp-Karrenbauer und Merz ist nach Einschätzung vieler journalistischer Beobachter, Politikwissenschaftler, Meinungsforscher und auch Parteigänger bislang noch unentschieden. Die CDU berauscht sich in Teilen sogar daran, dass der Auswahlprozess so spannend ist wie nie und eine Debatte über die inhaltliche Ausrichtung für die Zukunft über den reinen Personenkult hinaus ermöglicht. Das Rennen um den Vorsitz ist sogar so knapp, dass sich einige Parteigranden berufen fühlten, ihre Zurückhaltung aufzugeben und eine Wahlempfehlung auszusprechen. Damit ist in den vergangenen 48 Stunden ein neuer Drall in der Partei entstanden.

Vor allem Wolfgang Schäuble hat die Diskussion befeuert. Er hat sich für Merz ausgesprochen. „Es wäre das Beste für das Land, wenn Friedrich Merz eine Mehrheit auf dem Parteitag erhielte“, sagte Schäuble der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Daraufhin sprachen sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und auch Ex-Gesundheitsminister Norbert Blüm verstärkt für eine Stimmabgabe zugunsten von Kramp-Karrenbauer aus. Blüm - einst das sozialpolitische Gewissen der Partei unter Helmut Kohl - arbeite sich an beiden männlichen Bewerbern ab. „Spahn spielte den Besorgten beim Migrationspakt, im Kabinett und in der Fraktion war von ihm nichts zu hören, ein Held nach Feierabend“, sagte Blüm der Wochenzeitung „Die Zeit“.

"Raunen hinter den Kulissen"

Blüm ist es auch, der das Vorpreschen von Schäuble anprangert. „Ich habe ihn hinter den Kulissen raunen hören“, sagt der 83-Jährige mit aufgebrachter Stimme in der ARD-Talkrunde „Maischberger“ über den Bundestagspräsidenten. „Bisher kenne ich ihn nur als Strippenzieher!“, sagte Blüm. „Ich kritisiere, dass er sehr lange seine Meinung nicht gesagt, aber hinter den Kulissen seine Strippen gezogen hat. Und das mag ich nicht!“

Dass Schäuble hinter den Kulissen daran gearbeitet hat, dass Spahn zugunsten von Merz zurückzieht, um den konservativen Flügel in der Union zu einen, wird von mehreren Parteimitgliedern bestätigt. Und damit gerät auch eine alte Verbindung wieder in den Fokus, die inhaltlich für die CDU relevant ist. Denn Schäuble und Merz haben noch eine Rechnung offen mit Merkel.

Schäuble war es nicht vergönnt, Kanzler zu werden. Er musste damals wegen der Parteispendenaffäre der CDU um Helmut Kohl jene Frau an sich vorbeiziehen lassen, die er gefördert hatte. Auch Merz wird von einigen Parteikennern als Entdecker von Merkel bezeichnet - mal mit, mal sogar ohne Schäuble. Schäuble war nach dem Putsch gegen Kohl Parteichef und auch Fraktionsvorsitzender. Als sein Stellvertreter im Bundestag stand von 1998 bis 2000 Friedrich Merz an seiner Seite. Merkel löste 2000 erst Schäuble an der Parteispitze ab, Merz kam in der Fraktion an die Spitze, als dieser wegen der Spendenaffäre von beiden Ämtern zurücktrat. 2002 löste Merkel dann auch Merz ab.

Merkel entmachtete Merz

2003 wurde Merz Teil eines Männerbundes, der ohne die Parteichefin Merkel die Zukunft der CDU plante. Merkel entmachtete die Teilnehmer des sogenannten Andenpaktes oder zermürbte sie. Auch Merz. Er zog sich 2004 zurück, blühte in der Finanzkrise noch einmal kurz auf. Doch da stand Schäuble bereits loyal an Merkels Seite. Wenn Schäuble nun mit Merz einen Bund schließt, ist dies auch eine Art Abrechnung mit Merkels Kurs in der CDU.

Die Diskussion über die Zukunft der CDU ist also stark von der Vergangenheit geprägt. Deshalb wird vor der Wahl am Nachmittag eine heftige Debatte darüber erwartet, wohin sich das Programm der Partei entwickeln soll. Schon deshalb wurde nach den zahlreichen Empfehlungen maßgeblicher Parteistimmen und der Aufheizung der Personaldebatte die Partei zur Einheit aufgerufen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, lange Zeit selbst als Nachfolgerin von Merkel im Gespräch, warnte sogar vor Parteispaltung.

In Hamburg wartet man nun vor allem auf die Reden der drei Kandidaten. Sie werden wohl so stark wie nie zuvor den Ausschlag über den Ausgang geben.