Vor dem Brexit-Gipfel am Sonntag haben sich die Unterhändler der EU und Großbritanniens auf eine politische Erklärung geeinigt - aber sie sind noch längst nicht am Ziel. In dem Papier geht es um die künftigen Beziehungen nach dem EU-Austritt Großbritanniens Ende März 2019. Damit steht der letzte Baustein des Vertragspakets. Die Erklärung stieß aber am Donnerstag in London auf viel Kritik.

Donnerstag Abend kam die Meldung: Spaniens Premier Pedro Sanchez drohte nach seinem Gespräch mit Großbritanniens Premierministerin Theresa May erneut mit seinem Veto. "Unsere Positionen liegen weiterhin weit auseinander", ließ Sanchez am Donnerstagabend via Kurznachrichtendienst Twitter wissen.

"Meine Regierung wird immer die Interessen Spaniens verteidigen. Wenn es keine Änderungen gibt, werden wir ein Veto gegen den Brexit einlegen", so der spanische Premier mit Blick auf die Ausführungen zu Gibraltar im derzeitigen Austrittsvertrag.

"Anmerkung" ist Spaniern zu wenig

Nach der weitgehenden Einigung zwischen Großbritannien und der Europäischen Union steht Gibraltar als einer der letzten Stolpersteine vor dem Abschluss eines Brexit-Abkommens am Sonntag. Sanchez verlangt direkte Verhandlungen zwischen Spanien und Großbritannien über die Zukunft des britischen Überseegebiets. Spanien stößt sich auch daran, dass Gibraltar in dem Austrittsvertrag als UK-Territorium festgeschrieben wird.

Weder die britische Premierministerin noch die EU wollen den Brexit-Vertrag noch einmal aufschnüren. May hatte in Aussicht gestellt, dass es eine Art Protokollanmerkung geben könnte, in der er auf die spanischen Befindlichkeiten Rücksicht genommen wird. Über eine derartige goldene Brücke könnte es auch zu direkten Gesprächen zwischen Spanien und Großbritannien über Gibraltar kommen. Die Spanier müssten aber die Oberhoheit der Briten über Gibraltar anerkennen.

May gab sich zuvor bei zwei Auftritten - vor ihrem Regierungssitz in der Downing Street und im Parlament - kämpferisch. "Dies ist der richtige Deal für Großbritannien", sagte sie. "Der Text, auf den wir uns nun geeinigt haben, würde eine neue Freihandelszone schaffen mit der EU - ohne Zölle, Abgaben, Gebühren oder mengenmäßige Beschränkungen." Doch bleiben offene Punkte. May plant für Samstag eine letzte Verhandlungsrunde in Brüssel.

Nur noch zwei Tage Zeit

Obwohl nun offiziell das gesamte Brexit-Vertragspaket von den Unterhändlern beider Seiten akzeptiert ist, bleiben nach Darstellung der EU-Kommission offene Fragen, die bis zum Gipfel am Sonntag geklärt werden müssen. So ist der Widerstand Spaniens gegen das Brexit-Abkommen noch nicht ausgeräumt: Der Streit mit Blick auf das britische Überseegebiet Gibraltar "muss noch gelöst werden", sagte ein Kommissionssprecher. "Die Arbeit daran dauert an."

Die Regierung in Madrid hatte Änderungen am Entwurf des Austrittsvertrags verlangt, weil sie Festlegungen über den künftigen Status von Gibraltar fürchtet. Das Gebiet am Südzipfel der Iberischen Halbinsel steht seit 1713 unter britischer Souveränität, wird aber von Spanien beansprucht. Der Kommissionssprecher schwieg darüber, wie eine Lösung aussehen könnte. "Warten wir es ab", sagte er. Auch Vorbehalte anderer EU-Staaten wegen des künftigen Zugangs zu Fischgründen vor britischen Küsten bestünden fort, bestätigte er.

Streitpunkt Gibraltar

Zum Streit um Gibraltar sagte May, dass die britische "Souveränität" über das Territorium auch nach dem Brexit "geschützt" werde. Außerdem betonte sie die Chance, dass technologische Kontrollmöglichkeiten die umstrittene Auffanglösung (backstop) für Nordirland überflüssig machen könnten. Diese sieht vor, dass die Provinz nach der Übergangsphase in der EU-Zollunion bleibt und weite Teile der Bestimmungen des Binnenmarktes übernimmt.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ist am Donnerstag als Vertreter der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft in London von May empfangen worden. Kurz zeigte sich im Anschluss gegenüber Journalisten "sehr optimistisch", auch hinsichtlich einer Lösung in der Gibraltar-Frage.

Es gebe "gute Gesprächskanäle in dieser Frage, und insofern hoffe ich sehr, dass es gelingt, bis Sonntag auch diese Frage noch auszuräumen", sagte der Bundeskanzler unter Verweis auf den EU-Sondergipfel. Bei allem Verständnis, auch für die Interessen einzelner EU-Mitgliedstaaten, sei es "schon wichtig, festzuhalten, dass wir am Ende des Tages als Europäische Union geschlossen agieren müssen und ich hoffe sehr, dass das auch gelingt, bin da aber sehr optimistisch", fügte Kurz hinzu.

Noch nicht am Ziel

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht noch Klärungsbedarf. "Wir sind einen Schritt vorangekommen, aber es wird sicherlich noch vieler Diskussionen insbesondere auch in Großbritannien benötigen", sagte Merkel. Sie fügte aber hinzu: "Ich werde alles daran setzen, dass wir ein Abkommen hinbekommen."

In London erntete May umgehend Widerspruch. Der Erklärungsentwurf "macht aus dem Brexit kompletten Unsinn", kritisierte ihr Ex-Außenminister Boris Johnson den Deal. Der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, bekräftigte im Unterhaus, dass seine Partei nicht für die Vereinbarungen stimmen werde. "Das ist der unüberlegte Brexit, den wir alle befürchtet haben - ein Sprung in die Dunkelheit."

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon twitterte: "Jede Menge Einhörner, die an die Stelle von Fakten über die künftigen Beziehungen treten." Mit Einhörnern meinte sie unrealistische Ziele.

Nur "ehrgeizige Partnerschaft"

Anders als der knapp 600 Seiten starke Vertrag über den EU-Austritt, auf dessen Entwurf sich London und Brüssel vergangene Woche geeinigt hatten, ist die politische Erklärung über die künftigen Beziehungen rechtlich nicht bindend. Diese bildet die Grundlage für ein umfassendes Partnerschaftsabkommen, das in einer Übergangszeit nach dem Brexit geschlossen werden soll. Sowohl der Vertrag über den EU-Austritt als auch die politische Erklärung sollen am Sonntag auf dem Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs abgesegnet werden.

Der Entwurf für die politische Erklärung sieht eine "ehrgeizige, breite, tiefe und flexible Partnerschaft über Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit, Strafverfolgung und Strafjustiz, Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung und weitere Felder der Kooperation" vor. Die Rede ist von einer "ehrgeizigen, weitreichenden und ausgewogenen wirtschaftlichen Partnerschaft" und "ehrgeizigen Zollarrangements" auf Grundlage des schon im Austrittsvertrag angedachten "einheitlichen Zollgebiets". Einzelheiten bleiben offen.

Geklärt wurde aber eine andere Frage: Die Unterhändler einigten sich auf eine Option, die zunächst bis Ende 2020 vorgesehene Übergangsphase nach dem Brexit einmal um "bis zu einem oder zwei Jahre" zu verlängern. Damit könnte nach dem Brexit bis Ende 2022 faktisch fast alles bleiben wie gehabt. In der Übergangsphase muss Großbritannien weiter EU-Regeln einhalten und Beiträge nach Brüssel überweisen, ohne weiterhin in EU-Gremien vertreten zu sein.

May steht wegen der Vereinbarungen mit der EU im eigenen Land massiv unter Druck. Im britischen Parlament ist für das Vertragspaket keine Mehrheit in Sicht. Erheblichen Widerstand gibt es neben der Labour-Partei auch in Mays konservativer Partei als auch bei ihrem Partner im Parlament, der nordirischen DUP. Letztlich steht auch Mays Schicksal als Premierministerin auf dem Spiel.