Toni Pfeifer hat die Wölfe gesehen. Zwei große, ausgewachsene Tiere waren es, und sie kamen mitten in der Nacht. Das zerfetzte Kalb fand er dann bei Tageslicht hoch oben am Karerpass, wo der Bauer aus Deutschnofen den Sommer über sein Vieh gehütet hat. Kein schöner Anblick war das. Aber so ist das mit den Wölfen. In der Stadt haben sie eine romantische Vorstellung von ihnen. Aber die Realität sieht dann doch etwas anders aus: überall Blut, herausgerissene Eingeweide und ein großer materieller Schaden obendrein.

„Vom Land bekomme ich 900 Euro. Wert war die Kalbin 1500. Wer ersetzt mir jetzt den Verlust?“, fragt Pfeifer. Mit seinem mächtigen grauen Bart und seiner stattlichen Statur ist er eine imposante Erscheinung. In aller Herrgottsfrüh ist der 59-Jährige nach Bozen zum Viehmarkt aufgebrochen. Und da steht er jetzt mitten im Getümmel, ein Bär von einem Mann, zwischen schnaubendem Grauvieh aus dem Pustertal, bockigen Kälbern aus Abtei und milchstrotzenden Mutterkühen aus dem Vinschgau. „Sessanta, sechzig, settanta, siebzig, ottanta, achtzig“, schallt es aus den Lautsprechern in der Versteigerungshalle. Zweisprachigkeit als gelebte Normalität. Viele Händler sind aus dem Trentino und bieten eifrig mit, während Pfeifer draußen vor der Tür darüber sinniert, ob er das Vieh nächstes Jahr wieder auf die Alm treiben soll oder es wegen der Wolfsgefahr bleiben lässt.

Seit Monaten erhitzen die räuberischen Vierbeiner südlich des Brenners die Gemüter. Erst Anfang September haben sie wieder zugeschlagen und auf der Plose bei Brixen ein halbes Dutzend Schafe gerissen. Untätigkeit werfen die Almbesitzer dem Land vor, aber Bozen sind die Hände gebunden, da man in Brüssel und Rom von einer Aufweichung des Wolfsschutzes nichts wissen will. Für die Süd-Tiroler Freiheit ist das in einem Wahlkampf, der bisher träge dahindümpelte, ein gefundenes Fressen. „Der Wolf hat keinen Platz in unserem Land“, fordert die rechte Kleinpartei.

Aber wären es doch nur die Wölfe, die die Menschen in Unruhe versetzen! Größere und gefräßigere Raubtiere auf zwei Beinen streifen in diesen Tagen durchs Land. Und die Ängste, die sie schüren, haben nicht nur das fragile Gleichgewicht zwischen Tier und Mensch zum Inhalt. Sie zielen tiefer. Wieder einmal geht es zwischen dem Brennerpass und der Salurner Klause um die alte Frage nach Heimat und Identität. Es geht um die mühsam errungene Balance zwischen den Volksgruppen, ihr friedliches Miteinander bald 100 Jahre nach der gewaltsamen Angliederung an Italien.

Südtirol im Herbst. Golden glänzen die schroffen Riffe und zerklüfteten Grate der Dolomiten im Morgenlicht, das in breiten Bahnen über die sanft gewellten Almen hinab ins Tal fließt. Von den taunassen Weinbergen im Bozener Unterland steigen in der Früh Nebelschwaden auf und verwehen rasch. Die Stimmung hat etwas Fluides, die ganze Welt scheint an diesem Morgen in eine Atmosphäre der Unbestimmtheit getaucht, in der sich alles Feste verflüchtigt.

Seit 70 Jahren regiert die Südtiroler Volkspartei nun an Eisack und Etsch. Ihr unermüdlicher Kampf für die Autonomie hat Südtirol zu einer der reichsten Regionen in Europa gemacht, deren Eigenständigkeit längst auch die im Land lebenden Italiener nicht infrage stellen, wissend, dass darauf auch ihr eigener Wohlstand gründet.

Zwangsitalianisierung

Faschistische Zwangsitalianisierung, die Massenumsiedelung von Südtirolern in Hitlers Drittes Reich und die von militanten Tiroler Untergrundkämpfern verübten Bombenanschläge - das alles erscheint in der milden Herbstsonne nur als verblassender Abglanz einer fernen Vergangenheit. Seit 1992 ist der völkerrechtliche Streit zwischen Wien und Rom um das Land offiziell beigelegt, mit Österreichs EU-Beitritt 1995 wurde der symbolträchtige Brenner zur offenen Grenze. Seither gilt Südtirol weltweit als Musterbeispiel schlechthin für die Neutralisierung eines Konflikts unter dem Dach des vereinten Europa.

Doch Macht verschleißt. Und die EU schlitterte in die Krise. Vor der Jahrtausendwende begannen die Bastionen der SVP zu bröckeln. Die Sammelpartei verstrickte sich in Skandale. Neue Parteien, allen voran die Freiheitlichen und die Süd-Tiroler Freiheit, die beide für das Los von Rom eintreten, nutzten ihre Schwäche, um sich rechts von ihr festzukrallen. 2013 übergab Luis Durnwalder, der das Land ein Vierteljahrhundert als Patriarch regiert hatte, den Hof an den jungen Bürgermeister von Völs am Schlern, Arno Kompatscher. Bei der Wahl verlor die SVP knapp ihre absolute Mehrheit im Landtag, kam aber mit einem blauen Auge davon. Aber der Sieg der Rechtsparteien zementierte die Verwerfungen in der politischen Landschaft Südtirols. Die Volkspartei büßte den Alleinvertretungsanspruch für die deutschsprachige Mehrheitsbevölkerung ein.

Stilfes bei Sterzing. Eine Kirche, ein paar Bauernhöfe, ein Gasthaus. Unten im Wipptal tost der Verkehr über die Brennerautobahn. Oben im Dorf hat sich im Pfarrhof eine kleine Schar lokaler SVP-Funktionäre versammelt, um Kompatscher zu treffen, der auf seiner Wahlkampftour Zwischenstopp macht. Am Sonntag stellt sich der Landeshauptmann zum ersten Mal der Wiederwahl. In seiner Rede schildert er, wie er Südtirols Anliegen in Rom Gehör verschafft habe, und preist das Land als Insel der Stabilität in instabilen Zeiten. „Wichtig ist, dass wir zusammenstehen“, sagt er. Nur eine starke SVP könne die Autonomie garantieren.

Die Zuhörer, allesamt ältere Jahrgänge, nicken freundlich. Zwei Dinge sind es aber, die stutzig machen. Dass nicht mehr als zwei Dutzend Leute den Weg zu einem Auftritt des Landeshauptmanns finden, ist doch bemerkenswert. Noch auffälliger ist aber die Eindringlichkeit, mit der beide Vorredner die Anwesenden beschwören, für Kompatscher zu kämpfen. „Wir müssen uns zusammenreißen“, sagt der eine. „Er hat sich unser Vertrauen verdient“, der andere. Was hat es zu bedeuten, wenn die eigene Partei nach fünf Jahren von ihrem Kapitän spricht, als sei er ein Fremder?

Gebildet, urban und polyglott: Als Kompatscher 2014 von Durnwalder übernahm, verkörperte er eine neue Generation, die ganz selbstverständlich Tiroler Identität mit den Vorzügen der Italianità zu verbinden weiß. Den Stilbruch mit den alten Seilschaften unterstrich der Neue mit seiner Kleidung: eleganter Anzug statt Trachtenjoppe.

Doch ausgerechnet seine Weltläufigkeit könnte Kompatscher nun zum Nachteil geraten. „Er ist kein Volkstumspolitiker, war nie ein Parteimensch. Diese Distanz macht sich jetzt bemerkbar“, sagt eine Beobachterin, die dem Landeshauptmann ein souveränes Auftreten attestiert, „eine große rationale, aber eine zu wünschen übrig lassende emotionale Intelligenz“.

Tatsächlich hat sich seit der großen Flucht im Herbst 2015 in Europa der Wind gedreht. Überall steigt die Furcht vor dem Fremden, Heimat wird immer mehr zum Austragungsort einer Abwehrschlacht, auch in Südtirol, wo auf eine halbe Million Einheimische nur 1500 Asylwerber kommen. Kompatscher versucht, kühl gegenzuhalten. Aber Ängste sind oft irrational. In La Ila/Stern, einem ladinischen Dorf im Gadertal, hat sich der Pfarrgemeinderat im August gegen die Unterbringung einer Flüchtlingsfamilie im alten Pfarrhof ausgesprochen.

Beflügelt durch den Brexit wittern auch die Vertreter des Los von Rom Morgenluft. Das Einstandsgeschenk der neuen türkis-blauen Regierung in Wien, der Doppelpass, fiel für sie wie Manna vom Himmel.

Sven Knoll von der Süd-Tiroler Freiheit empfängt in seinem Büro in Bozen vor einem Porträt von Che Guevara. „Österreich ist mein Vaterland“, sagt er. Knoll ist ein smarter, eloquenter junger Mann, dem das Brachiale in Wort und Tat nicht fremd ist. Vor acht Jahren ließen er und Parteigründerin Eva Klotz auf Plakaten die italienische Trikolore mit dem Besen aus Südtirol fegen. Im Gespräch bleibt er betont sachlich. Der Doppelpass sei kein Anachronismus, sondern eine wichtige Absicherung, sagt Knoll. „Wo steht Südtirol in 50 Jahren? Wer ist dann die zu schützende Minderheit?“ Viele würden vergessen, dass die Autonomie keine territoriale, sondern eine ethnische zum Schutz der österreichischen Minderheit in Italien sei. „Was aber, wenn Italien eines Tages behauptet, die Südtiroler seien keine österreichische Minderheit mehr, welche Rechtfertigung gibt es dann noch für Autonomie?“

In Wahrheit ist der Doppelpass eine vergiftete Praline für Kompatscher und die SVP. Sie haben keine andere Wahl, als die Autonomiepolitik fortzusetzen, auch wenn das oft mühsam und am Ende mit schmerzlichen Kompromissen verbunden ist. Der Doppelpass macht die Dinge da nur noch komplizierter. Schon jetzt zieht Italiens Innenminister Lega-Boss Matteo Salvini bei jeder sich bietenden Gelegenheit dagegen vom Leder. „Kompatscher hat es nicht leicht. Dabei ist er ein Glücksfall für Südtirol“, sagt Francesco Palermo, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Verona und Minderheitenexperte. So werde dem Landeshauptmann vorgeworfen, jede zweite Woche in Rom zu sein. „Aber das muss er ja. In dieser Hinsicht denken die Südtiroler provinziell und glauben, dass die Autonomie von den Bäumen fällt. Dabei muss man wirklich um jedes Komma kämpfen.“ Palermo weiß, wovon er spricht. Von 2013 bis 2018 saß der perfekt zweisprachige Bozner als Parteiloser im Parlament in Rom.

Doppelpass

Den Doppelpass lehnt Palermo ab. Er könne den Wunsch danach emotional verstehen. „Aber da wird die Büchse der Pandora geöffnet. Viele Italiener fragten sich: Warum wollen sie uns nicht?“ Eine Einzelmeinung?

Zu Gast beim Bildhauer Lois Anvidalfarei und der Lyrikerin Roberta Dapunt in Abtei. Ein TV-Team, das auf dem uralten Bauernhof der zwei eine Dokumentation über Anvidalfarei gedreht hat, sitzt nach getaner Arbeit in der geräumigen Stube um den Tisch - Ladiner, Italiener, Deutschsprachige. Mühelos zwischen den Idiomen wechselnd, spricht man über dies und jenes, auch darüber, dass das Miteinander vor allem in den Städten bis heute nur ein friedliches Nebeneinander sei.

„Meine Muttersprache ist Ladinisch, ich schreibe auf Italienisch und lebe in einem Land, wo mehrheitlich Deutsch gesprochen wird. Ich bin da ziemlich exotisch“, sagt Dapunt, die für ihre Gedichte heuer mit dem renommierten Premio Viareggio ausgezeichnet wurde. Obwohl sie bei Einaudi, einem der größten italienischen Verlagshäuser, publiziere, merke sie seit einigen Jahren, dass sie in Südtirol sowohl für Ladiner als auch für Italiener inexistent sei. Nur die Deutschsprachigen würden sie oft zu Lesungen einladen und auch im benachbarten Trentino gastiere sie häufig. „Da fragt man sich schon: Was ist da los?“

Die Tischrunde belebt sich, weitere Fallbeispiele werden genannt. Niemand gibt sich Illusionen über den schwierigen Alltag der Koexistenz hin. Und dennoch ist der Blick nach vor in die Zukunft verhalten optimistisch.

Den Doppelpass dagegen halten alle Anwesenden für das Relikt einer Welt von Gestern. Ihre Identität sei doch um so vieles komplexer. Was für ein Schmarrn, im 21. Jahrhundert Doppelpässe hervorzuzaubern, wo man eigentlich an ein Europa ohne Grenzen glauben sollte, meint der Großindustrielle Michael Seeber.

Lois Anvidalfarei schneidet stumm Speck für die Gäste auf. Seine Beziehung zu Österreich ist eng. Er hat in Wien studiert, noch viele Freunde dort und stellt oft im Land aus. „Weißt du, wir haben in Südtirol viele Jahrzehnte darauf verwendet, die alten Teilungen zu überwinden“, sagt er leise zum Abschied. „Und nun dieser Schritt zurück, der uns nur von Neuem spaltet. Wozu das alles?“