Der Tag nach dem Erdbeben im politischen Berlin beginnt mit einer Diskrepanz: Medien und Opposition sind sich einig, dass die Abwahl von Volker Kauder nach 13 Jahren als Unionsfraktionschef der erste Schritt zur Nach-Merkel-Ära war - wenn nicht gar Vorbote einer unaufhaltbaren Lawine, die das ganze Land verändern wird. Aus CDU und CSU melden sich dagegen jene zu Wort, die das Votum gegen den Wunschkandidaten und Vertrauten der Kanzlerin zum rein demokratischen Wechsel erklären. Machtpolitisch ist nach all den Koalitions- und Unionskrisen so viel ins Rutschen geraten, dass es für Merkel ums Ganze geht: Übersteht sie die nächsten Monate als Partei- und Regierungschefin? Drei Szenarien für den Rest dieses Jahres.

Szenario 1: Merkel hält durch

Es wäre nicht das erste Mal, dass Merkel einen Angriff auf ihre inhaltlichen Vorgaben oder Autorität mit den Schultern wegzuckt - erst jüngst zerbrach im Asylstreit mit CSU-Chef Horst Seehofer fast die Fraktion, dann die Koalition, aber nicht Merkels Geduld. Nach der zweiten Einigung im rufschädigenden Ringen um Verfassungsschutzchef Maaßen wagte es CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer sogar, Merkels „Führungsstärke“ zu loben.

Szenario 2: Machtübergabe

Renommierte Politologen sprachen gestern bereits von einer „Erosion ihrer Machtbasis“.

Wenn im Oktober in Bayern und Hessen gewählt wird und die Union so einbricht, wie Umfragen es andeuten, wird man Merkel die Schuld geben. Der Druck wird wachsen. Immerhin wird im Mai das Europaparlament und im Herbst in drei Ost-Bundesländern gewählt, wo die AfD stärkste Kraft werden könnte. Das könnte Panik in der Union auslösen. Merkel könnte sich dem Druck entziehen, indem sie die wohl für einen späteren Zeitpunkt geplante Machtübergabe an einen Nachfolger ihrer Wahl vorzieht: Bereits auf dem CDU-Parteitag im Dezember könnte die neue Führung gewählt werden.

Will sie ihrer Abwahl zuvorkommen, könnte sie ihre Vertraute Kramp-Karrenbauer schon jetzt ins Rennen schicken; deren Berufung zur Generalsekretärin galt bereits als Weichenstellung dafür. Plausibel ist, dass dann auch ein konservativer Gegenkandidat und Merkel-Kritiker wie Gesundheitsminister Jens Spahn antritt. Je nachdem, wie gut der neue CDU-Chef auch CSU und SPD vermittelbar ist, kann er sich dann im Bundestag zum Kanzler wählen lassen. Verweigert sich ein Koalitionspartner, käme es zu Neuwahlen.

Szenario 3: Merkel wird gestürzt

Falls Merkel die Nerven hat, im Dezember noch einmal selbst anzutreten, würden das ihre Kritiker als Aufschub des Wechsels um zwei Jahre verstehen - und müssten handeln, um zur nächsten Bundestagswahl einen Kanzlerbonus aufzubauen. Spahn könnte Merkel herausfordern. Oder jemand, mit dem noch keiner rechnet, so wie es bei Brinkhaus der Fall war. Auch dann wäre offen, ob sich ein Nachfolger im Bundestag durchsetzt oder eine Neuwahl folgt. „Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.“ Das waren 1999 die Worte von Angela Merkel, die sie schrieb, bevor sie selbst Parteichefin wurde - damals völlig überraschend.