Wo sind die Flüchtlinge geblieben? Die Krise des Jahres 2015 ist vorbei, wird uns nahegelegt: Der budgetäre Aufwand für „Nichtösterreicher“ wird gesenkt, die Flüchtlingszahlen nehmen ab – infolge des Schließens der Balkanroute, eines Abkommens mit der Türkei, auch wegen restriktiveren Zulassungs- und Aufenthaltsbedingungen.

Dennoch: Flüchtlinge gibt es nach wie vor, bei uns (wenn auch in geringeren Zugangszahlen), aber vor allem in den weltweiten Krisengebieten, vornehmlich im Nahen Osten, in Afrika, in Südasien. Damit hält auch die Flüchtlingskrise an, argumentieren die Autoren zweier Bücher und schlagen Lösungen vor.

Einer der Autoren – Paul Collier – ist bekannt geworden durch sein Werk „Exodus“ (2013). Zuwanderung – so seine damals provokante These – hat zwar den Einwanderungsländern lange Zeit genützt, schadet ihnen aber, falls sie weiterhin anhält und unkontrolliert bleibt. Massenimmigration gefährdet den kulturellen Zusammenhalt der reichen Länder. Wenn diese Gesellschaften zu heterogen werden, sinkt zudem die Bereitschaft, für einen großzügigen Wohlfahrtsstaat zu zahlen. Das funktioniert nur, wenn die Nutznießer dem eigenen kulturellen Umfeld angehören.

In einem neuen Anlauf denkt er – gemeinsam mit anderen Autoren – darüber nach, wie sich die Situation durch die Flüchtlingskrise 2015 verschärft hat, welche Fehler dabei begangen wurden und was zu deren Lösung beitragen könnte.

Die Fakten sind klar: Es gibt eine zunehmende Zahl von Flüchtlingen – 65 Millionen haben ihren Heimatort verlassen müssen, 20 Millionen waren dabei gezwungen, die Grenzen ihres Heimatlandes zu überschreiten, weil sie an Leib und Leben gefährdet sind.

Für Europa war es zum ersten Mal in seiner neuzeitlichen Geschichte, dass ein Massenansturm von Flüchtlingen von außerhalb Europas stattfand – mehr als eine Million 2015 und danach. Dennoch war es keine Krise durch die hohe Zahl, sondern eine Krise der Politik – statt eines kohärenten Plans gab es einseitige Panikentscheidungen. Genährt und unterstützt wurde dies durch ein Asylsystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, unter dem Eindruck der Flüchtlinge des Naziregimes, aber auch des beginnenden Kalten Krieges. Gründe für und Antworten auf die Flucht haben sich seither radikal geändert.

Aus der Inkonsistenz des zusammengebrochenen Asylsystems ergaben sich weitreichende Konsequenzen: unkontrollierter Zustrom ohne Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Flüchtlingen und Zuwanderern, zunehmende Zahlen von ertrunkenen Flüchtlingen, wachsende Ängste und Xenophobie, die auch zum Brexit beitrugen. Alles – so die Autoren – wäre zu verhindern gewesen mit einer richtigen Mischung aus Hirn und Herz. Die katastrophalen Folgekosten entstanden durch das Fehlen internationaler Koordination und dem Sichverlassen auf ein hirnloses Herz.

Das Hauptargument, das die Bücher durchzieht: Wir brauchen sowohl Herz als auch Hirn. Das Herz muss drei Prinzipien folgen: dem des humanitären Mitleids, der internationalen Solidarität und dem Reagieren auf Bedürfnisse der Fliehenden. Daraus ergibt sich eine Pflicht zur Hilfe. Diese kann aber nicht kopflos bleiben.

Aufteilung der Lasten

Die Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen sollen nach den Grundregeln der Lastverteilung und dem Prinzip des komparativen Vorteils erfolgen. Ersteres beinhaltet, dass Solidarität nur zustande kommt und effektiv sein kann, wenn deren Lasten aufgeteilt werden und nicht – wie im Fall Syriens – jeder darauf wartet, dass der andere handelt. Komparativer Vorteil in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die Beteiligten das tun, was sie jeweils besser können.

Auf diesen Prinzipien entwickeln die Autoren ihr Konzept für eine zukünftige Gestaltung des Flüchtlingswesens. Dabei wollen sie nüchtern-pragmatisch bleiben. Das Ziel von Asylrecht und Flüchtlingshilfe wird in mehreren Stufen definiert: Grundinhalt ist der Schutz vor dem Risiko, vor dem die Menschen geflohen sind. Dieser Schutz muss allen, die diesen Risiken ausgesetzt sind, geboten werden – und nicht nur wenigen Auserwählten. Diese Hilfe muss aber auch darin bestehen, den Flüchtlingen ihre Autonomie zurückzugeben. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, damit sich Flüchtlinge selbst erhalten können.
Diese Ziele ziehen komplexe Folgerungen nach sich – um nachhaltig und auch politisch verteidigbar zu bleiben. Die Verpflichtung zur Hilfe bedeutet nicht ein unqualifiziertes Recht auf Einwanderung und sofortige Integration. Gerade weil das Ziel Schutz – und nicht wirtschaftlich-soziale Verbesserung – ist, muss es eine Kontrolle der Zuwanderung geben. Der Anspruch auf Schutz beinhaltet auch nicht, dass Flüchtlinge sich den Ort des Schutzes aussuchen dürfen – das Recht auf Asyl ist nicht dasselbe wie ein absolutes Recht auf Migration (wobei auch dieses Recht in seiner Absolutheit nicht besteht). Schutz vor Risiko ist auch gebunden an die Dauer des Risikos – sobald die Risiken wegfallen, ist Rückkehr geboten.

Das hat Konsequenzen für die Integration von Flüchtlingen in den reichen Ländern. Flüchtlinge brauchen Zuflucht und Autonomie, nicht permanenten Aufenthalt – Flüchtlinge wollen/sollen nach Wiederherstellung der Ordnung zurückkehren. Je integrierter, desto weniger geneigt sind sie zur Rückkehr. Die Autoren fragen auch, ob Flüchtlinge – wenn Rückkehr das Ziel ist – ihre kulturellen Werte ändern sollen.

Zufluchtsorte

Wesentlicher Ansatz aller Bemühungen muss die Wiedergewinnung der Autonomie der Flüchtlinge sein, die ohne eigene wirtschaftliche Tätigkeit nicht erlangt werden kann. Hauptzielrichtung ist Schaffung von sicheren Zufluchtsorten mit Anreizmechanismen und dem Recht auf Arbeit. Die Autoren geben Beispiele, wo und wie das ansatzweise gelingen kann. Dies aber – und das ist wesentlich – in Nachbarschaft zu den Ursprungsländern.

Der überwiegende Anteil aller Flüchtlinge lebt in armen Nachbarschaftsländern. Wir als reiche Länder konzentrieren uns auf die zehn Prozent, die bei uns angekommen sind, vernachlässigen die 90 Prozent, die in den ärmeren Ländern bleiben. Wir geben 75 Milliarden Dollar pro Jahr für die bei uns Angekommenen aus, nur fünf Milliarden Dollar für den „Rest“ – ein Verhältnis von 135 Dollar für Flüchtlinge bei uns, ein Dollar für die in armen Ländern.

Dieser neue Fokus ist auch ein Ausweg aus dem ethischen Dilemma der Länder mit hohem Einkommen. Das Fluchtangebot für Menschen aus viel ärmeren Ländern macht aus diesen Flüchtlingen wirtschaftliche Einwanderer mit der Perspektive eines viel höheren Lebensstandards. Das geht aber über die Pflicht zur Hilfe hinaus. Der Ausweg aus dem Dilemma besteht darin, Partnerschaften für die Länder aufzubauen, die Flüchtlingen einen Zufluchtsort geben, der ihren früheren Lebensumständen – wirtschaftlich und kulturell – entspricht.

Hier kommt das Prinzip des komparativen Vorteils zum Tragen: Die Nachbarländer sind eher imstande, die direkte Hilfe zu bewältigen. Dafür braucht es vermehrt sichere Häfen dort, wo sich die weitaus größte Zahl von Flüchtlingen aufhält. Von dort besteht auch eine viel größere Wahrscheinlichkeit der Rückkehr. Die reichen Länder hingegen haben die finanziellen Ressourcen dafür bereitzustellen. Auch zum eigenen Vorteil: Ein Flüchtling dort kostet viel weniger als ein Flüchtling hier.
Die Blumen der Willkommenssträuße müssen neu gebunden werden.