Im Vorfeld des heutigen 100. Geburtstages von Nelson Mandela hieß es, man könne für 256.000 Euro eine Nacht in seiner berühmten Gefängniszelle auf Robben Island verbringen. Auch wenn das für guten Zweck gedacht war: Wird der Kult um den Nationalhelden Südafrikas nicht übertrieben?

STEPHAN BIERLING: Zu dieser Obszönität ist es nach Protesten der Nelson-Mandela-Stiftung gottseidank nicht gekommen. Aber es ist durchaus so, dass viele aus dem Namen Mandela politisches oder wirtschaftliches Kapital zu schlagen versuchen. Das sieht man in der Politik, wo der ANC den todkranken Mandela 2012 und 2013 öffentlich zur Schau stellte, um ein besseres Wahlergebnis zu bekommen. Auch im Privaten versuchen viele seiner Familienangehörigen auf fast schon widerliche Art, den Namen Mandela zu vermarkten. Seine zweite Frau Winnie zum Beispiel hat in den Neunzigerjahren Erde aus dem Garten ihres gemeinsamen Hauses in Soweto als sogenannte „Heldenerde“ in Fläschchen abgefüllt und an ausländische Touristen verkauft. Mandela wegen seiner außergewöhnlichen politischen und moralischen Bedeutung für Südafrika und die Welt zu vermarkten, treibt irre Blüten.

Sie beschreiben in ihrer im April erschienen Biografie „Nelson Mandela. Rebell, Häftling Präsident“ auch seine Schattenseiten. Ist dieser Nationalheld so ein makelloser Held?

BIERLING: Natürlich ist kein Held völlig makellos. Für einen Wissenschaftler wie mich gibt es keine Wunder und keine Übermenschen. Ich versuche, Mandela mit all seinen gigantischen Leistungen, aber auch mit seinen Schwächen zu zeichnen.

Sie schreiben zum Beispiel, dass er als junger Mensch Sabotagen plante, den bewaffneten Kampf befürwortete der kommunistischen Partei angehörte. Das klingt eher nach Fidel Castro oder Robert Mugabe und weniger nach Gandhi. Warum hat er sich von dieser Vergangenheit nie distanziert?

BIERLING: Mandela hat nach langen Jahren des gewaltfreien Widerstandes von 1960 an – in den drei Jahren, in denen er noch in Freiheit war - auf einen militanten Kurs gesetzt. Er nahm Castros Revolution in Kuba 1959 zum Vorbild für seinen Kampf gegen die Apartheid. Mandela arbeitete mit militanten Gruppen zusammen, vor allem mit den Kommunisten in Südafrika. Und er warb um Geld- und Waffenhilfe von Widerstandsbewegungen aus ganz Afrika, von der Sowjetunion und von China. Mandela, der uns später als der Friedensbringer und Versöhner bekannt wurde, hat ganz anders begonnen. Von seiner gewaltbereiten und kommunistischen Vergangenheit hat er sich nie distanziert, weil ihm im Kampf gegen die Apartheid jedes Mittel und jeder Partner Recht war. Dafür, glaubte er, müsse man sich nicht entschuldigen.

Aber dann kam sein Wandel...

BIERLING: In der Tat. In seinen 27 Gefängnisjahren schaffte es Mandela, von einem gewaltbereiten, etwas selbstverliebten Widerstandskämpfer zu einem abgeklärten und humorvollem Führer zu werden. Meine Biografie, und das ist fast ihr spannendster Teil, dokumentiert diesen Reifeprozess Mandelas. Er wurde nicht als ein Gandhi geboren, hat sich aber zu einem entwickelt. Das ist die große Botschaft von Mandelas Leben, die mich wie so viele andere Menschen unheimlich fasziniert.

Was genau war der Anstoß für diesen Reifeprozess?

BIERLING: Mandela wusste nicht, wann er frei kommen würde. Er war zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In diesen langen Gefängnisjahren erkannte er, dass seine Strategie eines gewaltsamen Umsturzes der Apartheid kläglich gescheitert war. Und wenn Mandela eines war, dann Pragmatiker. Er gab sich dem Kampf der Apartheid absolut hin. Aber er überprüfte auch immer seine eigenen Rezepte, und wenn etwas nicht erfolgreich war, verwarf er sie. Er hat sich auch mit unterschiedlichen Partnern zusammengetan, und wenn die ihm nichts mehr brachten, wieder fallengelassen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

BIERLING: Auf Robben Island löste sich Mandela schnell von der Kommunistischen Partei gelöst, mit der er in den Jahren zuvor aufs Engste zusammengearbeitet hatte. Er bereitete sich systematisch auf jene Zeit vor, wenn er wieder freikommt. Dass das passieren würde, davon war er fest überzeugt. So lernte Mandela die Sprache der weißen Wärter und lernte im Kontakt mit ihnen die Ängste der Apartheid-Regierung besser kennen. Ihm wurde mehr und mehr klar, dass nur eine Verhandlungslösung den drohenden Bürgerkrieg verhindern kann. Das galt vor allem in den frühen Achtzigerjahren, als er noch als Häftling die ersten Gespräche mit der Regierung begann.

Mandela war dreimal verheiratet. Die zweite Ehe spielt auch eine entscheidende Rolle in seinem politischen Werdegang. Sie zeigt aber auch, welch hohen Preis er für seine politischen Überzeugungen bezahlt hat und wie sehr das private Unglück sein späteres Regieren beeinflusst. Was genau ist es, das ihn da so gebrochen hat und ihm dann solche Schwierigkeiten bereitet hat?

BIERLING: Winnie Madikizela, die er Mitte der Fünfzigerjahre kennenlernt hat und für die er sich auch scheiden lässt, war für ihn der absolute Traum. Eine junge, blendend aussehende, politisch engagierte und vor allem auch intelligente und durchsetzungskräftige Frau. Die an seiner Seite zu wissen, gab ihm schon sehr viel. Sie müssen sich vergegenwärtigen: Mandela war schon eine nationale schwarze Führungsfigur seit den späten Vierzigerjahren. Er trat selbstsicher auf und hatte enorme physische Ausstrahlung mit seiner außergewöhnlichen Größe und seinem durchtrainierten Körper, den schicken Anzügen. Er hatte einen dünnen Oberlippenbart wie Hollywoodstar Errol Flynn, einen angesehenen Beruf, er war Anwalt mit eigener Kanzlei, fuhr ein protziges Auto. Aber eine zentrale Rolle räumte Mandela Winnie nicht ein. In seinem Leben gab es nur eines: den Kampf gegen die Apartheid. Dafür hat er enorme persönliche Opfer erbracht. Mandela hatte selten Zeit für die Familie, er kümmerte sich kaum um seine Kinder. Weder für die aus seiner ersten noch die aus seiner zweiten Ehe. Das hat ihn im Gefängnis, als er unendlich viel Zeit hatte, zu reflektieren, schwer belastet.

Das dokumentiert auch das aktuell im C.H. Beck Verlag erschienene Buch „Nelson Mandela. Briefe aus dem Gefängnis“.

BIERLING: Seine Briefe, die wir jetzt erstmals publiziert haben, und die ich für mein Buch zum Teil einsehen konnte, zeigen einen Mandela, der nicht so selbstherrlich war wie der Mandela der Fünfzigerjahre. Er war auch nicht so diszipliniert und stoisch, wie wir ihn oft aus anderen Biographien kennen. Dieser Mandela ist schon fast verzweifelt am Schicksal seiner Frau, die von der Apartheid-Regierung malträtiert, eingesperrt und verbannt wurde. Seine Kinder wuchsen praktisch als Waisen auf. Mandela hatte ein patriarchalisches Verständnis von Familie und Politik. Es belastete ihn sehr, dass er als Ehemann und wichtigste Figur seiner Großfamilie im Gefängnis saß und sich nicht um sie kümmern konnte. Und dass er nach dem Tod seines Sohnes nach dessen Autounfall und dem Tod seiner Mutter nicht am Grab stehen konnte, weil ihm die Apartheid-Regierung nicht erlaubte, das Gefängnis zu verlassen, hat ihm alles persönlich sehr zugesetzt. Dazu gibt es herzzerreißende Briefe an Winnie, die uns einen verletzlichen, manchmal fast verzweifelten Mandela zeigen.

Das hat sich später, wie sie schreiben, bis ins Regieren fortgeführt, oder?

BIERLING: Mandela hat gegenüber Winnie eine fast bedingungslose Loyalität entwickelt. Verständlich, nachdem er sie alleine mit zwei kleinen Töchtern zurückgelassen hatte, als er ins Gefängnis ging. Er hat sie dann aber idealisiert und wegen der alten Zeiten lange die Treue gehalten, selbst als sich Winnie in den Achtzigerjahren gewaltbereit und aufrührerisch gab. Das galt auch noch, als sie Vizeministerin in seiner Regierung war, korrupt wurde und seinen Vorgaben als Präsident nicht immer Folge leistete. Erst alte Freunde konnten ihn überzeugen, sie aus der Regierung zu entlassen.

Bei allem Erfolg, den er als Präsident und ANC-Chef hatte, sowie dem Glanz, den er ausstrahlte, hört man in Südafrika, dass er entscheidende Fehler gemacht hat, die bis heute nachwirken. Was waren das für Fehler?

BIERLING: Zunächst muss man festhalten, dass die Verhinderung eines drohenden Bürgerkrieges und die Versöhnungspolitik alle seine Fehler bei weitem überstahlen. Aber Fehler hat er natürlich gemacht wie jeder Politiker. Am konkretesten in der Aids-Politik, um die er sich während seiner fünfjährigen Präsidentschaft nicht kümmerte und damit der Ausbreitung der Seuche nicht rechtzeitig entgegengewirkte. Er versuchte aber, dies nach seiner Amtszeit zu korrigieren. Auch stand er loyal zu Diktatoren wie Castro und Gaddafi, nur weil sie den Kampf des ANC unterstützt hatten, und wollte von deren Menschenrechtsverletzungen nichts wissen. Heute werfen radikale Schwarze im ANC Mandela vor, dass er zwar die politische Macht in Südafrika über freie Wahlen erobert und den ANC zur Regierungspartei gemacht hat, aber die ökonomische Umverteilung nicht hart genug vorangetrieben hat. Das stimmt so nicht. Vielmehr sucht der ANC angesichts seiner katastrophalen Regierungsbilanz mit Korruption und hoher Arbeitslosigkeit einen Sündenbock. Die Attacken auf Mandela sind eine Nebelkerzen-Politik, mit der der ANC von seinen eigenen Versäumnissen ablenken will.

Kann man Mandela vorwerfen, dass er sich die falschen Leute an seine Seite geholt hat?

BIERLING: Ja. Er duldete als Präsident zu lange inkompetente und korrupte Minister um sich. Weggefährten, die lange entweder im Exil oder im Gefängnis waren, räumte er einen zu großen Vertrauensvorschuss ein. Zudem muss man Mandela vorwerfen, manchmal ein Parteisoldat gewesen zu sein. Als Mugabe Anfang der Zweitausenderjahre zu einem brutalen Diktator wurde, kritisierte Mandela ihn scharf. Nach einem Rüffel des ANC stellte er seine Kritik jedoch ein.

Mandelas großer Traum war eine Regenbogennation ohne Unterschiede. Wie weit hat sich dieser Traum, so wie er ihn formuliert hat, schlussendlich bewahrheitet?

BIERLING: Er hat sich insofern bewahrheitet, als Mandela einen Bürgerkrieg, der vor der Tür stand und bei dem quasi jeder gegen jeden gekämpft hätte, verhindern konnte. Diese Regenbogen-Utopie half ihm auch, den Weißen, Farbigen und Indern zu versichern, in diesem neuen Südafrika einen Platz zu haben. Aber nicht alle Hoffnungen haben sich erfüllt. Denn letztlich gehört zu einer Regenbogen-Nation, dass alle die gleichen Chancen auf Bildung, Wohlstand und Partizipation haben. Das ist bisher nicht eingetreten. Das Ausbildungssystem in Südafrika ist vor allem für ärmere Schwarze und damit die große Mehrheit der Bevölkerung noch immer eine Katastrophe. Der ANC setzt überall Parteimitglieder als Lehrer ein, die oft nicht gut ausgebildet sind. Es ist bisher nicht gelungen, die horrende Arbeitslosigkeit von 25 bis 30 Prozent zurückzudrängen. Vor allem junge Schwarze haben kaum Chancen auf einen guten Job. Das ist aber nicht primär Mandelas Versäumnis, sondern das seiner Nachfolger. Thabo Mbeki und Jacob Zuma haben das Land auf einen Kurs der Stagnation und Korruption geführt und damit das Vermächtnis von Mandela schwer beschädigt.

Professor Stephan Bierling
Professor Stephan Bierling © Institut für internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg
Stephan Bierling: Nelson Mandela. C.H. Beck. 416 Seiten. 25,70 Euro.
Stephan Bierling: Nelson Mandela. C.H. Beck. 416 Seiten. 25,70 Euro. © C.H. Beck