In der englischen Sprache gibt es die Metapher vom Elefanten im Raum („elephant in the room“). Gemeint ist damit, dass es in einer bestimmten Situation ein riesiges Problem gibt, welches von allen Anwesenden ignoriert wird. Der Elefant ist zwar im Raum, aber niemand will ihn sehen.

Ab heute treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 29 Nato-Staaten in Brüssel. Seit Monaten sind Heerscharen von Diplomaten und Politikern mit der Vorbereitung beschäftigt. Die Nato gilt als erfolgreichstes Militärbündnis der Geschichte. Sie hat den Kalten Krieg gewonnen, schützt ihre Mitglieder vor vielfältigen Bedrohungen aus allen Winkeln des Planeten und ist tragendes Element der transatlantischen Beziehungen. Eigentlich wäre der Gipfel eine gute Gelegenheit für Europäer und Amerikaner, die gegenseitigen Sicherheitsgarantien zu bekräftigen und neue Projekte zur Stärkung des Bündnisses anzuschieben. In diesem Geist sind die Vorbereitungen auch vonstattengegangen. „Das wichtigste Thema wird die Stärke und Einheit der Nato sein“, sagte die amerikanische Nato-Botschafterin Kay Bailey Hutchinson. Die Sprachregelung in Europa lautet, es gebe eine „gute Basis für einen erfolgreichen und zukunftsweisenden Gipfel“.

Wenn da nicht dieser Elefant namens Donald Trump im Raum wäre. Seit dessen Amtsantritt als US-Präsident ist die US-Außenpolitik durch Sprunghaftigkeit geprägt. Das, was Beamte mühevoll vorbereiten, reißt der Präsident oft mit einem Tweet wieder ein. Im Juni etwa ließ Trump aus einer Laune heraus den G-7-Gipfel in Kanada platzen, als er nach seiner Abreise per Twitter die Zustimmung zum Abschlussdokument zurückzog. Und beim Nato-Gipfel vor einem Jahr putzte er die Staats- und Regierungschefs der Verbündeten vor Kameras wie Schulbuben herunter.

Für das Treffen am Mittwoch und Donnerstag ist alles penibel vorbereitet. Es wird das Erste sein im schicken, neuen Hauptquartier der Allianz am östlichen Stadtrand Brüssels. Ein beträchtlicher Erfolg wäre, wenn die Staatslenker ohne neuen Eklat ihr Programm abarbeiten könnten. Sollte Trump aber wieder randalieren, könnte das Ruf und Zusammenhalt des Bündnisses ernsthaft schädigen.

Das Schlimmste wäre ein offener Bruch – etwa, wenn Trump die amerikanischen Sicherheitsgarantien für Europa aufkündigt oder den Nordatlantikpakt infrage stellt. Zwei Abschlussdokumente sind vorbereitet: eine kurze politische Erklärung und ein detailliertes Kommuniqué. Die Staatslenker wollen etliche Beschlüsse fassen: So sind zwei neue Hauptquartiere für die Verlegung von Truppen geplant. Eines wird seinen Sitz in den USA haben, das andere in Deutschland. Außerdem sollen weitere, schnell mobilisierbare Kampfverbände dem Bündnis zugeordnet werden, um die Abschreckung gegenüber Russland zu stärken.

In Bezug auf Russland soll es grundsätzlich bei der Doppelstrategie von Abschreckung und Gesprächsangeboten bleiben. Die Nato will zudem ihre Ausbildungsmission im Irak ausweiten. Mazedonien soll zum Beitritt eingeladen werden.

Unangenehme Wahrheiten für die Europäer

Das ist der Plan. Aber die Amerikaner haben angekündigt, dass sie auch die Verteidigungsausgaben breit diskutieren wollen. Das dürfte für die Europäer unangenehm werden. Etliche geben weniger für ihre Verteidigung aus als die im Nato-Rahmen vereinbarten zwei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung. „Die Nato hat uns unfair behandelt, aber wir werden eine Lösung dafür finden“, sagte Trump vor seinem Abflug nach Europa. „Wir bezahlen viel zu viel und sie bezahlen viel zu wenig.“ Besonders hat der Präsident die Deutschen im Visier, sein Verhältnis zu Kanzlerin Angela Merkel gilt als zerrüttet. Trump vermischt den Streit um die Wehretats mit den Exportüberschüssen der Europäer im transatlantischen Handel. Auch beim Atomdeal mit dem Iran oder den Friedensbemühungen in Nahost liegen beide Seiten über Kreuz.

Und dann ist da noch Russland. Gerade erst haben die Europäer die Wirtschaftssanktionen gegen Moskau wegen dessen Rolle im Ukraine-Konflikt verlängert. Kurz nach dem Nato-Gipfel will Trump in Finnlands Hauptstadt Helsinki seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin treffen. Wie man weiß, kann der US-Präsident gut mit autoritären Herrschern. Die Europäer halten inzwischen vieles für möglich. Dazu zählt auch, dass der Nato-Gipfel im Eklat endet und anschließend in Helsinki eine neue Männerfreundschaft entsteht.