Die Flüchtlingspolitik entzweit Deutschland und die EU gleichermaßen. In Deutschland treibt Innenminister Horst Seehofer Kanzlerin Angela Merkel mit einem „Masterplan“ zur Lösung des Problems vor sich her. Er will Asylwerber, die zuvor in einem anderen europäischen Staat gewesen sind, an der Grenze abweisen, ohne auf die Zustimmung des nach den geltenden EU-Regeln zuständigen Staates zu warten. Bundeskanzlerin Angela Merkel zieht dem nationalen Alleingang eine europäische Lösung vor. Sie will Abkommen mit den betroffenen Staaten verhandeln, dafür braucht sie Zeit. Heute tagen beide Parteien, die CDU in Berlin, die CSU in München. Einigen sie sich nicht auf einen Kompromiss, droht die Union von CDU und ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU zu zerbrechen und mit ihr die Regierung.

Am Vortag zeichnete sich ab, wie ein Kompromiss aussehen könnte: Angela Merkel bekommt zwei Wochen Zeit, um bis zum EU-Gipfel Ende Juni einen europäischen Konsens in dieser Frage zustande zu bringen. Indessen ordnet Seehofer die Vorbereitung seines Masterplans an, die ohnedies zwei Wochen in Anspruch nehmen würde. So könnten beide ihr Gesicht wahren.

Es droht das Ende der Union und der Regierung

Einigen sich die zerstrittenen Parteien nicht auf einen Kompromiss, zieht Seehofer also seinen Plan gegen den Willen der Kanzlerin durch, müsste sie ihn entlassen. Damit wäre nicht nur die Union gesprengt, sondern auch die Regierungskoalition, die de facto aus drei Parteien besteht, CDU, CSU und SPD.

In dieser angespannten Lage kursierten widersprüchliche Nachrichten über ein Treffen, das Angela Merkel am kommenden Sonntag mit betroffenen Staaten vorbereiten soll. Einen „EU-Sondergipfel“ plane niemand, dementierte die deutsche Bundesregierung vage. „Selbstverständlich ist, dass die Bundesregierung in diesem Zusammenhang Gespräche mit unterschiedlichen Mitgliedsstaaten und der Kommission führt.“ Heute trifft Merkel den italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, morgen Frankreichs Präsident Emanuel Macron.

Die Akzente von Bundeskanzler Sebastian Kurz

Bundeskanzler Sebastian Kurz setzt in diesem Streit eigene Akzente. Am Donnerstag trifft er in Budapest mit den sogenannten Visegrád-Staaten zusammen – dazu gehören Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Polen, die alle als Gegner der Flüchtlingspolitik Angela Merkels und der EU gelten. Am Freitag wird EU-Ratspräsident Donald Tusk nach Wien kommen, um mit Kurz über das Thema zu beraten.

Auch aus Wien ist zu hören, dass am kommenden Sonntag ein Treffen der am meisten von den Folgen des Zustroms von Flüchtlingen betroffenen Länder in Vorbereitung ist. Bei diesen Gesprächen solle es um mehr gehen als die Abweisung von Asylwerbern an der Grenze. Kurz will die Gunst der Stunde nützen, noch vor Beginn des österreichischen Ratsvorsitzes und vor dem EU-Gipfel am 28. und 29. Juni den Druck für eine neue Migrationspolitik zu erhöhen. Frontex, die für den Schutz der Außengrenzen geschaffene Agentur, soll nicht nur personell verstärkt, sondern auch mit einem neuen Mandat ausgestattet werden. Statt wie bisher aus dem Meer gerettete Menschen nach Europa zu bringen, soll Frontex sie zurück an die Ufer Nordafrikas bringen dürfen.

Dass am Mittwoch die österreichische Bundesregierung gemeinsam mit der bayerischen Landesregierung in Linz tagt, ist gewiss ebenso wenig Zufall wie der gleichzeitige Besuch von Vizekanzler Heinz-Christian Strache und Innenminister Herbert Kickl bei Italiens Innenminister Matteo Salvini. Als wäre das nicht genug, tagt am Dienstag auch noch die Europol-Taskforce mit den Westbalkanstaaten zum Thema „Balkanroute“.