Die Zelte sind verschwunden, die ungewollten Transitreisenden in Bosniens Hauptstadt Sarajevo geblieben. Ob auf Parkbänken, am Bahnhof oder den Bushaltestellen: Auch nach der Räumung des Flüchtlingscamps gegenüber der wieder aufgebauten Vijecnica-Bibliothek Mitte Mai sind die Gruppen junger Männer mit den müden Gesichtern und den kleinen Rucksäcken in der einstigen Olympia-Stadt allgegenwärtig.

Wegen anhaltenden Spannungen in Kaschmir habe er vor ein und halb Jahren all seinen Besitz verkauft und seine Heimat verlassen, berichtet im Zentrum von Sarajevo der schlaksige Pakistani Mohamed Zaid. Von Serbien aus sei er vor ein einigen Tagen nach Bosnien und Herzegowina gelangt. Über Kroatien und Slowenien wolle er versuchen, sein Ziel Italien zu erreichen: „Ich will dort einfach nur normal leben – und arbeiten.“

Die 2016 offiziell geschlossene Balkanroute hat sich nach Süden verschoben. Und ausgerechnet der noch immer von den Folgen des Bosnienkriegs (1992-95) gezeichnete Vielvölkerstaat Bosnien und Herzegowina ist für die Transitmigranten zu einer der wichtigsten Durchgangsstationen auf dem anvisierten Weg nach Westen mutiert. Die meisten Neuankömmlinge reisen über Griechenland, Albanien und Montenegro in den Vielvölkerstaat ein. Hinzu kommen in Serbien gestrandete Flüchtlinge, die wegen Ungarns Grenzzaun und der verschärften Überwachung der kroatischen-serbischen Grenze nun über den Umweg Bosnien in den Westen zu gelangen trachten: Vom ostbosnischen Bihac aus hoffen sie über Kroatien ins nahe Schengenland Slowenien und dann weiter nach Westen zu gelangen.

Allein in den ersten Monaten des Jahres habe sich die Zahl der registrierten Immigranten „um 600 bis 700 Prozent erhöht“, lässt Sicherheitsminister Dragan Mektic die Alarmglocken schrillen: „Aber sie können nicht in Bosnien bleiben.“ In absoluten Zahlen klingt der Zuwachs weniger dramatisch. Wurden 2016 in Bosnien noch weniger als hundert Immigranten aufgegriffen, waren es 2017 bereits 800 – und in den ersten Monaten dieses Jahres rund 2000 erfasste Transitflüchtlinge, die über Bosnien nach Westen zu gelangen hoffen.

Die Dunkelziffer dürfte angesichts der schwer zu überwachenden Grenzen Bosniens erheblich höher liegen. Doch ob es täglich nun 50 oder 150 Neuankömmlinge sind, die laut völlig unterschiedlichen Angaben der Grenzpolizei, des UNHCR-Flüchtlingswerk und nationaler Flüchtlingsbehörden auf Bosniens Territorium gelangen: Mit der Flüchtlingskrise von 2015/16, auf deren Höhepunkt täglich über 10 000 Menschen über die damals über Mazedonien und Serbien laufende Balkanroute nach Westeuropa gelangten, ist Bosniens derzeitige Migrationskrise keineswegs zu vergleichen.

Nur die Geschäfte der Schlepper brummen. Mit der Unterbringung von mehreren hundert offiziellen Asylbewerben zeigt sich Bosniens dysfunktionales Staatskonstrukt hingegen völlig überfordert. Einig sind sich die streitbaren Politiker der bosnischen Serben, Kroaten und muslimischen Bosniaken nur in ihrer Forderung nach der Abriegelung der kaum lückenlos zu überwachenden Grenzen – notfalls mit Hilfe der Armee. Ansonsten schieben sie sich angesichts nahender Wahlen im Herbst wieder einmal entschlossen gegenseitig die Verantwortung und den Schwarzen Peter für die ungewollten Flüchtlinge zu.

Obwohl in dem noch immer von den Folgen des Bosnienkriegs  gezeichneten Vielvölkerstaat noch immer rund 7500 heimische Vertriebene in über 100 Auffangzentren leben, ist das Flüchtlingsland der steigenden Zahl von Transitflüchtlingen kaum gewachsen. Den geschätzten 1500 bis 2000 Migranten, die sich derzeit in Bosnien aufhalten sollen, stehen nur wenige hundert Lagerplätze gegenüber. So zählt das landesweit bisher einzig operative Zentrum für Asylbewerber bei Sarajevo gerade einmal 154 Plätze.

Die Zentralregierung habe den Teilstaaten die Zuständigkeit für die Grenzüberwachung „abgenommen“, aber wolle ihnen nun das Flüchtlingsproblem aufhalsen, wettert Milorad Dodik, der Präsident des Teilstaats der Republika Srpska: „Es wird kein Aufnahmezentrum auf unserem Territorium geben.“

Die nur noch geschäftsführende Regierung in Sarajevo wiederum schiebt die Zuständigkeit für einen Einsatz der Armee bei der Grenzüberwachung auf Bosniens völlig zerstrittenes Staatspräsidium ab. Die kroatische Kantonsverwaltung in Mostar ließ wiederum einen eigentlich abgesprochenen Flüchtlingstransport von Sarajevo in das neu eingerichtete Aufnahmelager Salakovac stundenlang von der Polizei blockieren. Verärgert sprach Bosniens Sicherheitsminister Dragan Mektiv hernach von einem „Staatsstreich“. Besorgt hat die Menschenrechtsbeauftragte des Europarats Bosnien mittlerweile ermahnt, für eine angemessene Unterbringung hilfesuchender Migranten zu sorgen – unabhängig davon, ob sich deren Zahl erhöht habe.

Zwar hat das Flüchtlingskommissariat im nahen Serbien dank des erneuten Routenwechsels im Mai einen „leichten Rückgang“ der Flüchtlingszahlen vermeldet. Doch besorgt reagieren alle Staaten der Region auf die Kunde von erneut steigenden Flüchtlingszahlen an der türkischen-griechischen Grenze, wo in den ersten beiden Mai-Wochen offiziell 660 Neuankömmlinge registriert worden sind. Denn egal, wie die die sich ständig ändernde Balkanroute gerade verläuft: Steigende Flüchtlingszahlen in Griechenland bekommen alle Anrainer zu spüren. Auch wenn mit einer Wiederholung der Krise von 2015 derzeit keineswegs zu rechnen scheint.