Sie hat zwei Kinder. Eine Tochter und einen Sohn, beide Anfang 20. Am Dienstagabend war ihre Tochter in der Nähe, als es passierte, als Olivera Lakic nur kurz vor die Haustür ging, und ein Mann auf sie zukam. Mit einer Waffe in der Hand. Er feuerte auf ihre Beine, er traf, und er flüchtete mit zwei anderen Männern in der Dunkelheit. Die 49-jährige Enthüllungsjournalistin der montenegrinischen Tageszeitung „Vijesti“ ist spezialisiert auf Korruption und organisierte Kriminalität. Sie hatte Glück.

Sie liegt außer Lebensgefahr im Spital. Es war bereits der zweite Angriff auf die Journalistin in den letzten sechs Jahren, und der zweite auf Mitarbeiter von „Vijesti“ in nur einem Monat. Im April gab es einen Bombenanschlag auf das Wohnhaus eines „Vijesti“-Redakteurs, bei dem erstaunlicherweise niemand verletzt wurde.

Protestkundgebungen in Podgorica

Am Tag nach dem Schussattentat sind alle entsetzt. Spontan werden Protestkundgebungen vor dem Regierungsgebäude in der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica organisiert. Hunderte Journalisten und Bürger versammeln sich mit Plakaten: „Stop Nasilju“ (Stoppt die Gewalt).

Stop Nasilju - Stoppt die Gewalt: Protestkundgebung in Podgorica
Stop Nasilju - Stoppt die Gewalt: Protestkundgebung in Podgorica © AP

„In Montenegro Journalist zu sein, ist grauenhaft“, sagt Zeljko Ivanovic im Telefonat mit der Kleinen Zeitung. Der Schock hat ihm auf die Stimme geschlagen, er wirkt erschöpft. „Die Mafia in unserem Land organisiert solche Anschläge in sehr professioneller Weise. Aber das Perfide: Unser Präsident Milo Djukanovic ist in diese Vorgänge involviert“, sagt Ivanovic. Er ist CEO der Zeitung „Vijesti“ („Nachrichten“), der wichtigsten Oppositionszeitung in dem Balkanland, an der auch die Styria Media Group mit 25 Prozent beteiligt ist. Seit er selbst einem Anschlag entkommen ist, schaue er sich bei jedem Restaurantbesuch vorsichtshalber erst einmal um: „Ich habe 2007 viel Glück gehabt“, erklärt er.

Die Tageszeitung und der TV-Sender „Vijesti“ sind das größte unabhängige und prowestliche Medienhaus in Montenegro - und der Stachel im Fleisch der Politik, die seit mehr als zwei Jahrzehnten von Milo Djukanovic entweder als Staats- oder Regierungschef gelenkt wird. „Man muss immer wieder sagen, wie es ist: Djukanovic hat bei uns in Montenegro ein Klima geschaffen, in dem regierungskritische Journalisten zu Freiwild erklärt werden“, sagt der „Vijesti“-Chef.
Djukanovic ist nicht nur ein gewiefter Politiker, er ist auch ein gerissener Geschäftsmann. Wegen Zigarettenschmuggels in den 1990er-Jahren ermittelten die italienischen Behörden sieben Jahre lang gegen ihn. 2009 wurde das Verfahren eingestellt. Djukanovics Familie kontrolliert seit 2006 die privatisierte Prva Banka, die mit Steuergeldern großzügig saniert wurde. Das „Forbes“-Magazin schätzte 2017 das Vermögen der Familie Djukanovic - dazu gehören auch sein Bruder Aco und seine Schwester - auf 167 Millionen Dollar.

Bei der Protestkundgebung nach der Schussattacke auf die Journalistin am Mittwoch forderten die Demonstranten von der Regierung lautstark eine Änderung des Strafgesetzes, um Angriffe auf Journalisten strenger zu bestrafen.

Gefährliche Gegend für Regierungskritiker

In der Verfassung des EU-Beitrittskandidaten Montenegro ist die Gleichstellung aller Sprachen, Religionen und Kulturen festgehalten sowie die Meinungs- und Pressefreiheit. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Seitens der Familie von Milo Djukanovic laufen vor montenegrinischen Gerichten horrende Klagen gegen „Vijesti“ wegen angeblicher Verleumdung. Montenegro ist eine gefährliche Gegend für Regierungskritiker. „In den Ländern des Westbalkans, die in die EU streben, ist die Lage der Medienfreiheit bedrohlich“, attestierte auch die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.

Dunja Mijatovic, Kommissarin des Europarates für Menschenrechte, forderte unterdessen die montenegrinischen Behörden auf, für die Sicherheit der attackierten Journalistin zu sorgen, die Angreifer zu identifizieren und sie strafrechtlich zu verfolgen. Der Europarat reagierte mit Bestürzung auf die Attacke und rief zum Schutz von Journalisten und unabhängigen Medien auf. Solche Angriffe seien immer auch Angriffe auf die Demokratie, sagte der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland. Solche Attacken würden sich derzeit wieder häufen: „Wir müssen alles tun, um diesen Trend zu stoppen“, erklärte er.

EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn, der morgen bei den Europatagsfeierlichkeiten in Podgorica weilt, wird „aus Solidarität“ auch der „Vijesti“-Redaktion einen Besuch abstatten. Aus seinem Büro heißt es, man werde ein Auge drauf haben, dass der aktuelle Fall aufgeklärt wird.

Allein: In den letzten 15 Jahren gab es in Montenegro Dutzende Angriffe auf Journalisten. Keine der Taten wurde bisher aufgeklärt.