Herr Dalos, Sie leben schon seit vielen Jahren in Berlin. Haben Sie manchmal Heimweh nach Ungarn?
GYÖRGY DALOS:
Berlin ist kein Exil und ich bin kein Emigrant. Anders als die vielen Exilungarn, die ich kennengelernt habe, kann ich jederzeit nach Budapest fahren. Ich bin zufrieden. Nicht alle haben dieses Glück. In den vergangenen Jahren haben 500.000 Ungarn das Land verlassen. Das sind zumeist junge Leute, die in der Heimat für sich keine Perspektive mehr sehen. Das ist traurig.

In der medialen Berichterstattung wird oft der Eindruck erweckt, Ungarn stünde kurz davor, in eine Diktatur zu kippen. Wo steht das Land wirklich?
Als jemand, der in einer Diktatur gelebt hat, würde ich das Wort lieber nicht verwenden. Allerdings handelt es sich auch nicht um eine Demokratie im strengen Sinn. Ich würde es als persönliche Einmann-Demokratie des Viktor Orbán bezeichnen. Der Ministerpräsident versucht, über seine persönliche Autorität eine Herrschaft zu errichten, die ihm in einer normalen Demokratie nie zustünde. Gleichzeitig gibt es bei Orbán aber auch immer etwas Tröstliches. Er denkt nicht unbedingt das, was er sagt. Er ist ein zynischer Machtpolitiker, der mühelos zwei Sprachen gleichzeitig spricht: die eine nach innen an seine Wähler gerichtet, die andere gegen seine Feinde.

Sie kennen ihn?
Ich kannte ihn als jungen Mann. Er war damals ein intelligenter, selbstbewusster Bursche mit großen Plänen. Aber das waren Machtambitionen von Anfang an. Nur war er mit zwanzig halt noch etwas naiver als heute.

Orbán ist durch eigenes Zutun zum Gottseibeiuns der EU geworden. Aber liegt er mit mancher Kritik an Europa, etwa in der Flüchtlingskrise, nicht richtig?
Orbán operiert mit wirklich vorhandenen Schwierigkeiten der EU und versucht, diese für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Die Flüchtlingskrise ist so ein Problem. Sie betrifft primär Länder wie Italien und Spanien, am wenigsten die Osteuropäer. Natürlich war es ein Fehler, dass man im Herbst 2015 auf dem Höhepunkt der Krise ohne Kontrolle die Flüchtlinge nach Deutschland durchgewinkt hat. Aber das hat Orbán gerettet. Denn zuerst waren die Massen ja in Ungarn.

Sie meinen, Orbán müsste Angela Merkel eigentlich dankbar sein, statt gegen sie zu wettern.
Die Kanzlerin hat spontan entschieden. Dabei wird die deutsche Vergangenheit mit eine Rolle gespielt haben. Die Flüchtlingskrise muss in einer guten Balance von Humanität und Zweckmäßigkeit gelöst werden. Aber für Orbán ist das nicht die Frage. Er will aus der Angst der Ungarn politisches Kapital schlagen. Und diese Angst ist da. Denn Ungarn ist noch immer ein wenig eine Welt von gestern. Man hat Vorbehalte, selbst wenn jemand aus dem Nachbardorf kommt. Das nutzt Orbán aus und ergänzt es durch ein Phantom.

Welches Gespenst meinen Sie?
George Soros, den Finanzmagnaten ungarischer Abstammung. Ihn hat Orbán zur Zielscheibe des allgemeinen Hasses, des Frusts und der Furcht der Bevölkerung erkoren.

Er wirft Soros vor, das christliche Abendland durch Zuwanderung zerstören zu wollen.
Dabei war er ursprünglich selber für Flüchtlingsquoten, allerdings nur im Ausland, nicht zu Hause. Orbán braucht einen Sündenbock, weil die Ausgangslage vor den Wahlen anders ist als vor vier Jahren. Das Maß an Korruption der Eliten ist so groß und so sichtbar geworden, dass Orbán fürchten muss, viele Stimmen zu verlieren. Und dann sind da auch noch die Rechtsradikalen von der Jobbik-Partei. Die haben mit Nazisprüchen begonnen und tun jetzt so, als ob sie Vegetarier wären. Dabei haben sie nur den Ton modifiziert. Aber sie beginnen, echte Politik zu machen, indem sie gnadenlos die Schwächen der Fidesz-Leute aufdecken. Für Orbán steht zwar nicht die Macht, aber die Zweidrittelmehrheit auf dem Spiel.

Schwingt im Urteil der West-über die Osteuropäer nicht auch viel Unverständnis mit?
Die Länder des ehemaligen Ostblocks haben gewiss ihre Eigenheiten. Bedauerlicherweise gehört ein historisches Selbstmitleid dazu. Die sehen sich als ewige Opfer. In Polen spricht man sogar vom Christus der Völker. Man wirft dem Westen vor, dem Osten nie geholfen zu haben. Für Ungarn ist es das historische Trauma. Erst die Mongolen, dann die Türken, darauf die Habsburger und die niedergeschlagene Revolution von 1848 und nach dem Ersten Weltkrieg dann der Frieden von Trianon. Immer wurde das Land im Stich gelassen. Das sind natürlich Phantomscherzen. Aber sie richten sich gegen Europa.

Ungarn hat in seiner Geschichte aber auch viel durchgemacht.
Alle Völker in Osteuropa haben das. Aufgrund ihrer Unterentwicklung hatten sie viel größere Probleme mit der Schaffung bürgerlicher Strukturen und der Entwicklung des Kapitalismus. Die Diktatur unter sowjetischer Dominanz hat die Rückständigkeit noch verstärkt. Aber das sind Schwierigkeiten, die anders reflektiert werden könnten als mit operettenhaften Husarenritten gegen die EU.

Wie denn?
Indem die Politik ihre Bemühungen auf den Ausbau der Demokratie und die Verbesserung der sozialen Verhältnisse lenkt. Doch was wurde in den letzten fünfzehn Jahren in Ungarn stattdessen an Hass angehäuft! Wir haben eine wirkliche Hasskultur in Ungarn! Seit 2010 hat sich die Regierung mit den anderen Parlamentsparteien kein einziges Mal zu einer Tasse Kaffee an einen Tisch gesetzt.

Die starke politische Polarisierung ist eine der Konstanten der Geschichte des Landes.
Sie war immer da. Sie ist unsere historische Hypothek. Dabei durften wir im Jahr 1989 kurz hoffen, dass wir ab sofort einander mit etwas mehr Geduld, Toleranz und Verständnis begegnen. Aber die Demokratie hat aus der ungarischen Gesellschaft fast nur negative Gefühle hervorgebracht. Das hat damit zu tun, dass die Nachwendejahre von vielen als Zeit der chronischen Verarmung erlebt wurden. Gerade für die Generation, die den Fall des Eisernen Vorhangs als junge Erwachsene erlebte, war das schwer zu ertragen. Die haben zuvor in einer geschlossenen Gesellschaft gelebt, in der zwar grundsätzliche Freiheiten fehlten, aber auch keine gesellschaftliche Verantwortung zu tragen war.

Und heute?
Heute sind die Leute müde geworden. Sie sind erschöpft und resigniert. Wenn die Korruption ihrer Regierung in Rumänien 500.000 Menschen auf die Straße treibt, dann sind es in Ungarn bestenfalls 10.000.

Woran liegt das?
Bei aller verbalen Aggression ist die Mentalität der Ungarn doch friedlicher als die anderer Völker. Manchmal denke ich, dass in unserer Brust zwei Seelen wohnen. Die eine ist rebellisch und begehrt stürmisch auf. Die andere dagegen ist ängstlich, unterwirft sich den Autoritäten und lässt vieles über sich ergehen, nur um ihre Ruhe zu haben.

Wonach sehnen sich die Ungarn am meisten?
Nach sozialer Stabilität. Das ist bemerkenswerterweise eine der wenigen Dinge, die Orbáns Regime nicht zuwege gebracht hat. Ich denke da an das Gesundheitssystem und das Schulwesen. Die Leute fühlen sich atomisiert und ausgeliefert. Aber Orbán sieht diese Dinge nicht mehr. Nach zwei Jahrzehnten Dauerwahlkampf ist er selber erschöpft und beginnt, politisch zu erblinden.

Was kommt nach ihm?
Wer weiß das schon? Ich weiß nur, dass ich ihm treu die Gegnerschaft halten werde, nicht dem Menschen Orbán, sondern seiner Politik. Ob seine eigenen Leute ihm auch so treu bleiben werden, da bin ich mir nicht so sicher.