Wegen schwerwiegender Grundrechtsverletzungen leitet die EU-Kommission jetzt tatsächlich ein Verfahren ein.  Das Grundrechtsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags ist bisher noch nie angewandt worden, es kann für Polen bis zu einem Verlust seiner Stimmrechte in der EU führen.

Im EU-Jargon gilt der Artikel des EU-Vertrags wegen seiner beabsichtigten abschreckenden Wirkung als "Atombombe". Ein solches Verfahren kann bis zu einem Stimmrechtsentzug für das betreffende Land führen. Diese Entscheidung liegt aber dann in den Händen der EU-Staaten, für Sanktionen müssten vier Fünftel der EU-Staaten zustimmen. Das Verfahren, das auch eine Anhörung des beschuldigten Staates vorsieht, wurde nach den EU-"Sanktionen" gegen die damalige ÖVP-FPÖ-Regierung unter Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 neu in den Vertrag aufgenommen.

"Schweren Herzens entschieden"

Die EU-Kommission erklärte, sie habe gehandelt, "um die Justiz-Unabhängigkeit in Polen zu verteidigen". EU-Kommissionsvize Frans Timmermans sagte am Mittwoch in Brüssel: "Nach zwei Jahren kann die Kommission nur schlussfolgern, dass es ein echtes Risiko einer schweren Grundrechtsverletzung gibt." Die EU-Kommission will Polen aber noch eine Brücke bauen. Sollte Polen die empfohlenen Schritte der EU-Kommission für Justizunabhängigkeit binnen drei Monaten umsetzen, sei die Kommission bereit, ihren Vorschlag für eine Entscheidung der EU-Staaten noch einmal zu überdenken, sagte Timmermans. Die Fortsetzung des Verfahrens und allfällige Sanktionen müssen nämlich von den EU-Staaten beschlossen werden.

Die EU-Kommission habe "schweren Herzens entschieden, Artikel 7 einzuleiten, aber die Tatsachen lassen uns keine andere Wahl", sagte Timmermans. Dies sei aber "keine Nuklearwaffe", wie oft behauptet werde, "das ist nicht der Fall". Seit Juni habe sich die Situation in Polen verschlechtert. Es gehe nicht nur um Polen, sondern um die EU. "Wir tun das für die Bürger in Polen", so Timmermans. Diese hätten ein Recht auf eine unabhängige Justiz.

Polens Justizminister "gelassen"

Polens nationalkonservative Regierung hat die Entscheidung Brüssels für ein Sanktionsverfahren gegen das Land betont ruhig kommentiert. "Ich nehme die Entscheidung mit Gelassenheit zur Kenntnis", sagte am Mittwoch Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro nach dem Beschluss der EU-Kommission.

Erstmals in der Geschichte der EU hat die Kommission das Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen ein Mitgliedland eingeleitet. Die scharfe Sanktion kann bis zum Entzug der Stimmrechte im Ministerrat führen. Wegen umstrittener Gesetze der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit PiS sehen Rechtsexperten und EU-Kommission die Unabhängigkeit der Justiz in Polen in Gefahr.

Ziobro, der durch bereits geltende und teilweise geplante Gesetze weitreichende Befugnisse über die Justiz erhält, wies die Vorwürfe zurück. Er betonte, Polen sei ein rechtsstaatliches Land und werde auf EU-Ebene nur geschätzt, wenn es ein funktionierendes Gerichtswesen habe. Deswegen müsse man die Justizreformen umsetzen. Die PiS argumentiert, der Justizapparat sei seit dem Ende des Kommunismus 1989 nicht reformiert worden und die Richter seien größtenteils korrupt.

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte bereits mit der Einleitung des Verfahrens gerechnet. "Es ist ein Vorrecht der Europäischen Kommission, das Verfahren einzuleiten", sagte er noch vor der Entscheidung und kündigte an, im Jänner mit dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker über die Justizreformen zu sprechen. Er hoffe, dass Warschau und Brüssel "trotz gewisser Differenzen" in den nächsten 12 bis 18 Monaten eine Ebene der Zusammenarbeit finden könnten. "Vielleicht ja auch dann, wenn beide Seiten bei ihrem jeweiligen Standpunkt bleiben."