Unabhängigkeitsbefürworter auf den Straßen von Barcelona
Unabhängigkeitsbefürworter auf den Straßen von Barcelona © APA/AFP/JORGE GUERRERO

Es ist, als ob sogar der Himmel sein Statement abgeben wollte: Es schüttet aus vollen Kübeln. Den Hunderten Menschen kurz vor neun Uhr früh vor dem Bürgerzentrum in Sants in Barcelona scheint das allerdings nichts auszumachen. Sie schnattern, rauchen und schauen.

Der Stadtteil ist ein klassisches Arbeiterviertel, von den Balkonen hängen weniger katalanische Fahnen, dafür mehr vom FC Barcelona. Das legendäre Camp Nou ist keine halbe Stunde entfernt. Was diese Menschen an diesem geschichtsträchtigen 1. Oktober aber sehr wohl stört ist die Tatsache, dass die Türen zum Wahllokal noch immer nicht offen sind, schließlich wollen sie es heute wissen.

Sie wollen darüber abstimmen, ob Katalonien von Spanien unabhängig und damit eine Republik werden soll - oder nicht. Ein Vertreter der Wahlkommission tritt kurz nach neun vor die Tür: „Die spanische Regierung hat unsere Wahlurnen beschlagnahmt.“ Ein Murren geht durch die Menge. „Aber wir werden die Wahl trotzdem abhalten“, sagt er und bekommt dafür heftigen Applaus. „Votarem!“, wir werden wählen, wird wieder einmal skandiert. Um halb zehn öffnen sich die Türen, jetzt gibt es sogar tosenden Applaus, und spontan wird ein katalanisches Volkslied gesungen. Es geht friedlich zu vor diesem Wahllokal.

Ein alter Mann war in Katalonien abstimmen und bekommt dafür Applaus
Ein alter Mann war in Katalonien abstimmen und bekommt dafür Applaus © APA/AFP/JOSEP LAGO

Alte und junge Männer, junge und alte Frauen, mit und ohne Kinder, Menschen mit Krücken und in Rollstühlen sind hier und stellen sich – als ob sie Briten wären – ruhig und friedlich hintereinander in einer Reihe an. Und diese Reihe geht über mehrere Straßen, wirkt kilometerlang. Von Demokratiemüdigkeit ist hier nichts zu bemerken. Weit weg stehen Polizisten. Eigenartigerweise vermummt. Breitbeinig und mit verschränkten Armen stehen sie da und beobachten nur.

Doch nicht überall ist es so. Eine italienische Journalistin erzählt, dass sie im Wahllokal Balmes von Polizisten verprügelt wurde. Raffaela hebt ihr weißes T-Shirt zum Beweis hoch: quer über ihre Rippen ziehen sich die Striemen. „Das ist ja unglaublich, was hier los ist“, sagt sie aufgeregt. „Ich arbeite schon lange in dem Beruf, aber dass man derart an seiner Arbeit gehindert wird, ist mir noch nicht passiert.“
Im Wahllokal in der Schule Ramon Llull, benannt nach einem mallorquinischen Philosophen, geht es auch schon rund an diesem besonderen Tag, an dem die Katalanen ihr demokratisches Recht auf freie Wahlen, so meinen sie jedenfalls, einfordern. Dass die Abstimmung für viele intransparent ist und darüber hinaus verfassungswidrig, ließ die Katalanen offensichtlich unbeeindruckt. Auch die Repression der spanische Zentralregierung im Vorfeld wirkte nicht.

Die bürgerliche Zeitung „La Vanguardia“, nicht bekannt für das Marktschreierische, schreibt von „blutüberströmten“ Menschen in diesem Wahllokal, und von Schlagstöcken der paramilitärischen Einheit Guardia Civil und der Nationalpolizei gegen die Wähler, die sich ihre Wahl garantiert nicht nehmen lassen. Selbst vor Gummigeschossen, die in Katalonien verboten sind, ließen sich die Bürger nicht abschrecken. „Als wir klarmachen, dass wir uns vom Wahllokal nicht wegbewegen, haben sie uns mit Schlagstöcken attackiert“, zitiert die Zeitung einen Betroffenen. Bilder und Videos im Internet zeigen, wie Polizisten Leute aus den Stimmlokalen zerren, hinaustreten und von den Eingängen wegdrängen.

Das Innenministerium in Madrid erklärt, die Polizei habe Gewalt nur im Rahmen des Verhältnismäßigen eingesetzt, Kataloniens Regionalpräsident Carles Puigdemont hingegen spicht von „ungerechtfertigter Gewaltanwendung.“ Auch der ehemalige FC-Barcelona-Star Xavi meldet sich zu den Vorgängen in Barcelona in einer Videobotschaft zu Wort: „Was heute in Katalonien passiert, ist eine Schande.“ 500 Verletzte, darunter Schwerverletzte, gab es bis zum Abend, und stündlich wurden es mehr.

Ein Spiel des FC Barcelona gegen Las Palmas am Nachmittag wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt - das Spiel fand trotzdem statt, ohne Publikum, weil die spanische Liga den Spiel-Ausfall nicht zuließ.
In der Escola Drassanes, in der Nähe der Rambla, sitzen am späten Nachmittag die Wahlbeisitzer schon vor ihren vollen weiß-schwarzen Wahlurnen, die mit roten Bändern versiegelt sind. „Es waren schon mehrere Hundert Wähler bei uns“, sagt eine ältere Frau und lächelt. Vielleicht liegt es nur an der grünen Schulwand, vielleicht aber auch am genauen Zählen, dass sie so müde wirkt. „Es ist ja nicht einfach heute“, erklärt sie. „Die spanische Regierung hat ja seit dem Morgen das Internet gesperrt, überall dort, wo Wahllokale sind. Damit online nichts mehr geht.“

Durch eine Blockade des Systems im IT-Zentrum von Barcelona wurde so nicht nur eine Online-Abstimmung verhindert, es konnten auch keine Meldungen über Wahlbeteiligung etc. hinausgehen, weil es Hunderte Meter im Umkreis von Wahllokalen für niemanden einen Internet-Zugang gab.

Auf die Frage, wann mit einem Ergebnis zum Referendum zu rechnen ist, antwortet eine junge Wahlbeisitzerin: „Das kommt auf die spanische Regierung an.“ Warum?
„Weil sie schon eifrig damit beschäftigt ist, unsere vollen Wahlurnen zu beschlagnahmen. Das ist schon in vielen Wahllokalen passiert. Aber wer weiß, vielleicht übersehen sie uns ja.“ Die Kraftprobe geht jetzt erst los.