Es ist ziemlich warm im Kanzlerinnenbüro, die Heizung ist aufgedreht. Draußen hat der Herbst mit kühlem Regenwetter eingesetzt. Aber man könnte es auch symbolisch sehen - auf Wahlkampfveranstaltungen wird Angela Merkel derzeit nicht nur mit Kühle empfangen, sie wird niedergeschrien und -gepfiffen. Die Kanzlerin zeigt sich entspannt. Zwölf Jahre hat sie nun von diesem Büro regiert, mit einem Konrad-Adenauer-Bild hinterm Schreibtisch und mit Blick auf den Reichstag. Im Parlament wird es nach der Bundestagswahl wohl anders aussehen. Ihr Büro will Merkel erst einmal niemand anderem überlassen.

Sie liegen in den Wahl-Umfragen vorne. Auf Wahlkampf-Veranstaltungen schlägt Ihnen aber häufig Hass entgegen, mit durchgehenden Trillerpfeifen-Konzerten und Volksverräter-Rufen. Wie erklären Sie sich diese Aggression?

ANGELA MERKEL:  Auslöser mögen konkrete politische Entscheidungen sein, aber Menschen, die dort pfeifen und brüllen, haben erkennbar kein Interesse mehr zuzuhören. Was man aber nie vergessen darf: Auf den Plätzen sind immer in der großen Mehrzahl Menschen, die zuhören und sich demokratisch informieren möchten.

Sind die Leute mit den Trillerpfeifen erreichbar für Sie?

Ein erheblicher Teil hört keine Sekunde zu und kommt auch gar nicht, um für Argumente erreichbar zu sein. Ob sie hinterher noch nachdenken, weiß ich natürlich nicht.

Sie werden massiv beschimpft. Ficht Sie das nicht an?

Nein. Mir ist es wichtig, auch im Wahlkampf nicht nur die vermeintlich bequemen Orte zu besuchen. Es ist wichtig, den vielen Menschen, die zuhören und sich eine Meinung bilden wollen, die Möglichkeit dazu zu geben. Und jede Veranstaltung ist auch eine Ermutigung derer, die sich gegen Hass stellen.

In Ostdeutschland ist der Protest besonders laut. Vielleicht liegt das auch an der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Jahresbericht zur Deutschen Einheit konstatiert ja, dass einige Regionen nicht mehr aufholen können.

Der Bericht sagt auch, dass eine Menge geschafft wurde. Aber es gibt noch Verbesserungsbedarf. Allerdings gibt es den auch in den alten Bundesländern. Auch dort gibt es signifikante Unterschiede, etwa zwischen Bayern und manchen Regionen in Nordrhein-Westfalen.

Sollte man den Ost-West-Vergleich also zum gesamtdeutschen Vergleich ausweiten?

In jedem Fall ist die Frage der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die natürlich unser Ziel ist, keine rein ostdeutsche Debatte mehr.

Und kann man die Unterschiede noch ausgleichen?

Dafür ist Bayern ein gutes Beispiel: Da gab es vor Jahrzehnten auch Regionen, die abgehängt schienen. Das Land hat dann eine bewusste Dezentralisierungspolitik betrieben und Hochschulen, Fachhochschulen angesiedelt. Heute haben sich die Unterschiede zum Beispiel in der Arbeitslosenquote weitestgehend angeglichen. Eine gezielte Förderung ist also nötig und möglich.

Was heißt das? Bundesbehörden ins Oderbruch oder ins Bergische Land?

Ein gutes Beispiel ist die Ansiedlung des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Greifswald. Wissenschaftler zogen von München dorthin, das war anfangs sicher nicht so beliebt. Aber längst ist dort ein sehr lebendiges Zentrum entstanden, die Lebensqualität ist hoch. Ein anderer Punkt: Wenn der Bund den Breitbandausbau im ländlichen Raum fördert, dann ist das nicht irgendeine Subvention, sondern gezielte Struktur- und Zukunftspolitik, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu ermöglichen.

Sie zeichnen in Ihren Reden oft ein positives Bild von Deutschland, zum Beispiel mit dem Hinweis auf die gesunkene Arbeitslosigkeit. Aber die soziale Ungleichheit ist gestiegen: Die unteren Einkommensgruppen haben heute weniger Geld zur Verfügung als noch vor zehn, 15 Jahren.

Seit 2005 ist die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgegangen, das ist von überragender Bedeutung für Millionen von Menschen. Außerdem haben wir den Mindestlohn eingeführt. Manchmal wird als vermeintlicher Beleg für wachsende Armut angeführt, dass mehr Menschen als früher Grundsicherung im Alter bekommen. Aber die Grundsicherung ist ja gerade dafür gedacht, Menschen aus verschämter Altersarmut herauszubringen. Zudem ging die Empfängerzahl letztes Jahr zurück, was auch auf unsere Wohngeldreform und die starke Rentenerhöhung im vergangenen Jahr zurückgeführt werden kann.

Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge hat zugenommen. Das schafft auch Unsicherheit.

Ohne Sachgrund dürfen Arbeitsverträge im Regelfall nur bis zu zwei Jahren zeitlich befristet werden. Außerdem liegt der Anteil der befristeten Arbeitsverhältnisse insgesamt bei rund 8 Prozent. Das größere Problem ist vielmehr, dass eine Befristung immer wieder verlängert werden kann, wenn ein Sachgrund oder unterschiedliche Sachgründe vorliegen. Das sind die sogenannten Kettenarbeitsverträge. Dass gerade im öffentlichen Dienst mit Befristungen manchmal Schindluder getrieben wird, ist nicht in Ordnung.

Sehen Sie also Handlungsbedarf bei der Befristung von Arbeitsverträgen, so wie die SPD?

Wenn es in bestimmten Branchen Missbrauch gibt, müssen wir uns das genau anschauen und gegebenenfalls dagegen vorgehen. Die weit größere Herausforderung sehe ich jedoch darin, vor dem Hintergrund des digitalen Fortschritts dafür zu sorgen, dass es ausreichend Bildungs- und Weiterbildungsangebote gibt. Der Fachkräftemangel führt dazu, dass jeder, der eine gute Berufsausbildung hat, auch gute Arbeitschancen haben wird.

Ist die Bildung nicht ohnehin das Stiefkind der Politik? Alle reden darüber, aber der Bund sitzt auf hohen Steuereinnahmen, während gleichzeitig Schulen bröckeln?

So ist es ja nicht. Wir haben zum Beispiel das Grundgesetz dahingehend geändert, dass sich der Bund an der Finanzierung von Schulen beteiligen kann, was er vorher nicht durfte. Wir zahlen für den Ausbau und den Betrieb von Kitas, und wir wollen künftig auch die Ganztagsbetreuung der Grundschüler mitfinanzieren. Es ist ja nicht nachvollziehbar, dass es bis zum sechsten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf Nachmittagsbetreuung gibt und die Kinder mit dem Eintritt in die Schule mittags wieder vor der Tür stehen. Wenn der Bund sich da engagiert, hilft das, Beruf und Familie zu vereinbaren, es hilft aber auch den Kindern, deren Eltern sie nicht so gut fördern können. Wir müssen außerdem die Lehrer fit für die Anforderungen des digitalen Fortschritts machen. Oft sind die Schüler da schneller und besser als ihre Lehrer.

Auch besser als Sie?

Na sicher. Wenn Sie jemals ein kleines Kind gesehen haben, wie selbstverständlich es mit einem Tablet umgeht, dann staunen Sie. Kinder lernen leicht.

Sprechen wir noch über die Flüchtlingspolitik: Da geht es in der EU bei der Verteilung überhaupt nicht voran. Ungarn verweigert sich nun auch einem EuGH-Urteil, das es zur Aufnahme von Flüchtlingen verurteilt. Sind Sie gescheitert mit Ihrem Ansatz?

Es ist ein offensichtlich sehr dickes Brett, das da zu bohren ist. Wir sind uns in der EU einig über den Schutz der Außengrenzen, über Entwicklungshilfe und Bekämpfung der Fluchtursachen, auch über die Migrationspartnerschaften mit afrikanischen Staaten. Wir sind uns zudem über die allermeisten Grundsätze des neuen EU-Asylsystems einig, vor allem dass es krisenfester als in der Vergangenheit ausgestaltet sein muss. Bei der solidarischen Verteilung von Flüchtlingen in Europa sind es von derzeit 28 Mitgliedsstaaten nur drei bis vier Staaten, die das rigoros ablehnen. Alle anderen haben sich bereit erklärt, ihren Anteil zu tragen, und nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist selbst beim slowakischen Ministerpräsidenten Bewegung zu erkennen. Dass eine Regierung aber sagt, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs interessiere sie nicht, das ist nicht zu akzeptieren.

Heißt das, Ungarn muss raus aus der EU?

Das heißt, dass eine sehr grundsätzliche Frage Europas berührt ist, denn Europa ist für mich ein Raum des Rechts. Wir werden beim Europäischen Rat im Oktober darüber reden müssen.

In Deutschland gibt es eine Debatte darüber, ob Flüchtlinge ihre Familien nachholen dürfen. Die CSU und der Bundesinnenminister wollen den Nachzug stoppen.

Die Flüchtlinge, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind, haben einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug, auch wenn der langsam vorangeht, weil zum Beispiel die Antragszeiten in den Botschaften oft recht lange sind. Dieser Gruppe müssen wir erst einmal zu ihrem Recht verhelfen. Für die andere Gruppe der Flüchtlinge, die den sogenannten subsidiären Schutz bei uns haben, ist der Familiennachzug derzeit bis zum nächsten Frühjahr ausgesetzt. Anfang des Jahres werden wir die Lage beurteilen und dann entscheiden, wie es weitergeht.

Die CDU hat sich den Schutz der Familie ganz oben auf die Fahnen geschrieben. Ist ein Ausbremsen der Familienzusammenführung für Sie kein moralisches Problem?

Die von der Genfer Flüchtlingskonvention Geschützten haben ein Recht auf Familienzusammenführung, und daran halten wir uns. Für andere Gruppen ist das immer wieder eine Abwägung, und es sind immer wieder schwere Entscheidungen, wenn wir an die Einzelschicksale denken.

In dieser Woche eröffnen Sie die Internationale Automobil-Ausstellung in Frankfurt. Warum wollen Sie für das Ende des Verbrennungsmotors, das Sie ja sehen, kein festes Datum nennen? Beim Atomausstieg gab es auch eine politische Zeitvorgabe. Und den Druck braucht man offensichtlich - von alleine macht die Autoindustrie ja offenbar nichts. Außer tricksen.

Ich bin überzeugt, dass es vorangehen wird, denn in der Autobranche herrscht hoher Entwicklungsdruck. Bei der Energiewende geht Deutschland seinen Weg konsequent voran. Viele Länder weltweit setzen weiter auf Kernkraft. Bei der Antriebstechnik für Autos wird dagegen weltweit intensiv an neuen Technologien gearbeitet. China etwa ist sehr ambitioniert bei den Elektroantrieben. Da müssen wir sehen, dass wir dranbleiben.

Ist es nicht eher so, dass Sie die Autoindustrie mit Samthandschuhen anpacken?

Nein. Ich habe sehr klar und kritisch über den Vertrauensverlust gesprochen, den die Konzerne durch ihre Fehler angerichtet haben und den sie selber wieder gutzumachen haben.

Aber reichen da kritische Worte?

Die Fehler müssen benannt und abgestellt werden. Zugleich müssen wir sehen, dass in der Autoindustrie mehr als 800 000 Menschen arbeiten, die gar nichts falsch gemacht haben. Ich möchte eine starke und zukunftsfähige deutsche Automobilindustrie.

Fahrverbote lehnen Sie ab. Sind Sie denn offen für Tempolimits, für Tempo 30 in allen Städten? Die führen auch zu geringerem Schadstoffausstoß.

Generelle Tempolimits sind falsch. Über das autonome Fahren bekommen wir besser gelenkte Verkehrssysteme mit Richtgeschwindigkeiten. Bei alternativen Antrieben gibt es keine Emissionen und laut ist es dann auch nicht mehr. Ich bin sowieso kein Freund von Verboten. Ich bin mehr für evolutionäre Übergänge.

Ihr Dienstwagen ist kein Elektro-Auto, auch weil es die in gepanzerter Ausführung nicht gibt. Hätten Sie gerne eines?

Für den Stadtverkehr wäre ich sehr dafür. Insgesamt muss die Infrastruktur für das Aufladen verbessert werden, und zwar über ein dichteres Netz an Ladesäulen oder auch Steckdosen an Laternenpfählen und Lademöglichkeiten am Arbeitsplatz.

Würden Sie auch gerne Fahrrad fahren wie Ihr Kanzleramtsminister Peter Altmaier?

Klar, aber im Moment habe ich nicht so viel Zeit dafür.