Herr Schulz, lassen Sie uns über eine große Liebe von Ihnen sprechen - den Fußball. In Ihrer Jugend wollten Sie sogar Profi werden. Wenn Sie heute den Wahlkampf mit einem Fußballspiel vergleichen: Welche Position spielen Sie, welche Frau Merkel?

MARTIN SCHULZ: Ich war ein ziemlich erfolgreicher linker Verteidiger. Merkel ist meine Gegenspielerin. Sie wäre dann - um in Ihrer Fußballlogik zu bleiben - Rechtsaußen.

Wir dachten, Sie wollten angreifen.

SCHULZ: Ja, aber ich verteidige die Grundwerte unseres Landes und die Prinzipien der deutschen Sozialdemokratie. Als Fußballer war ich ein Abwehrspieler - aber mit starkem Drang zum Tor. Im modernen Fußball gilt ja: Alle Spieler müssen sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung präsent sein - das passt auch gut zu meiner aktuellen Jobbeschreibung.

Die meisten verorten die Kanzlerin in der politischen Mitte und nicht als Rechtsaußen.

SCHULZ: Jeder glaubt, Angela Merkel zu kennen, aber niemand weiß, wofür sie steht. Über die Aufstellung der Union entscheidet am Ende nicht Merkel, sondern Horst Seehofer. Wer Merkel wählt, bekommt die CSU. Merkel versucht immer, einen sehr mittigen Eindruck zu machen, aber am Ende steht sie für eine sehr konservative Politik.

Woran machen Sie das fest?

SCHULZ: Denken Sie an Merkels Manöver bei der Ehe für alle. Sie hat im Bundestag gegen die Gleichstellung von Schwulen und Lesben gestimmt. Dass sie vorher in einer verschwurbelten Form das Ganze zur Gewissensfrage erklärt hat, lag allein daran, dass sie das Thema aus taktischen Gründen hektisch abräumen wollte. Denn alle potenziellen Koalitionspartner hatten die Ehe für alle zur Bedingung für eine Koalition gemacht.

Wie wollen Sie es schaffen, einen Gegner in die direkte Auseinandersetzung zu zwingen, der im Spiel klar führt und dann nur noch hinten mauert?

SCHULZ: Das entscheidende Match - um in Ihrem Bild zu bleiben - findet am 24. 9. statt. In der jetzigen Phase betreibt die Union ein doppeltes Spiel. Auf der einen Seite versucht ihre Spielführerin tatsächlich, sich allem zu entziehen. Gleichzeitig schickt sie die Holzer aus ihrer Partei auf den Platz, die anderen kräftig in die Knochen treten. Die beschimpfen dann den Mitbewerber. Die fordern, Sozialausgaben zu kürzen, um die Aufrüstung der Bundeswehr zu finanzieren. Oder die Rente mit 70. Und Frau Merkel tut so, als habe sie nie etwas damit zu tun.

Und wie kommen Sie jetzt in die Offensive?

SCHULZ: Die Taktik der Union ist, hinten dicht zu machen, ohne selbst offensiv etwas Konstruktives zu leisten. Die Erfahrung aus dem Fußball zeigt: Das reicht oft nur für 80 Minuten. Es ist ermüdend, auf einen dynamischen Gegner immer wieder reagieren zu müssen. Das führt zum Torerfolg für die offensive Mannschaft in den letzten zehn Minuten. Das gilt in Pokalspielen genauso wie in Wahljahren. Das eigentliche Problem ist aber ein ganz anderes: Wer nicht anpacken will, verspielt die Zukunft unseres Landes. Das unterscheidet mich von Frau Merkel: Ich will die Zukunft gestalten, statt nur den Status quo zu verwalten.

Sie sind in den vergangenen Monaten viel durch Deutschland gereist. Wie überzeugen Sie jemanden von sich, der aus Enttäuschung über die etablierten Parteien diesmal AfD wählen will?

SCHULZ: Ich versuche ihm klarzumachen, dass die AfD nicht seine Interessen vertritt. Die AfD tut ja nur so, als sei sie die Partei des kleinen Mannes. In Wirklichkeit ist sie die Partei des Vorurteils. Und ich erkläre, dass man nicht Rechtsextreme wählen muss, wenn man einen kritischen Blick aufs politische Geschehen in unserem Land hat. Mein Eindruck: Viele sind enttäuscht, weil sie sich von „den Politikern“ nicht respektiert fühlen. Respekt ist ein Schlüsselwort. Was ich dem Betreffenden mit auf den Weg geben kann, ist Folgendes: „Glaub mir, ich habe in meinem Leben Höhen und Tiefen genauso erlebt wie du. Deshalb habe ich ein Gefühl dafür, wie es ist, verzweifelt zu sein. Bitte wirf deine Stimme nicht weg! Gib sie jemandem, der die Chance hat, das Land zu gestalten, und der das auch will.“

Und das funktioniert?

SCHULZ: Ja. Mir hilft in so einem Moment, dass ich nicht in die Regierung eingetreten bin. Viele sagen mir, mit einem Ministeramt und der entsprechenden Bühne hätte ich es im Wahlkampf leichter. Aber wir befanden uns bei meiner Nominierung als Kanzlerkandidat gut ein halbes Jahr vor der Wahl. Der Steuerzahler bezahlt die Regierenden doch nicht, damit sie einen tollen Apparat für den Wahlkampf haben, sondern damit sie regieren. Dass ich es mir da nicht leicht gemacht habe, bedeutet auch ein Stück Glaubwürdigkeit. Etwas, was Frau Merkel übrigens fehlt, wenn zum Beispiel das Bundespresseamt ihre Wahlkampfauftritte organisiert - wie zuletzt bei ihrem Youtube-Interview.

Der berechtigte wie unberechtigte Frust über „die da oben“ trifft alle vermeintlichen „Eliten“ von Politik bis Medien. Sehen Sie die Gefahr, dass ein Populist wie Donald Trump auch in Deutschland eine Chance hat?

SCHULZ: Nein. So hoffnungslos abgehängte Regionen wie in den USA gibt es in Deutschland nicht. Das Gebot der Gleichbehandlung der Regionen hat geholfen, dass bei uns Verwerfungen in den vergangenen Jahren besser abgefedert wurden. Probleme gibt es aber auch bei uns. Ich nehme es sehr ernst, wenn Menschen sich nicht respektiert fühlen. Gerade wir Sozialdemokraten müssen die Lebensleistung des Einzelnen wertschätzen.

Der Mann der Protestwähler versetzt nun als US-Präsident die Welt in Angst. Hätten Sie als Bundeskanzler überhaupt mehr Einfluss auf das, was Donald Trump tut, als jetzt?

SCHULZ: Wer hat auf diesen Mann schon Einfluss? Ich kann es nicht sicher sagen. Weder Frau Merkel noch ich können Wunder vollbringen. Entscheidend ist, dass man der amerikanischen Führung insgesamt klarmacht, dass Europa eigenständig ist. Und nicht bereit, den gefährlichen Weg der USA zu gehen.

Trump ist offenkundig anfällig für Schmeichelei. Einfluss hat am ehesten, wer ihn lobt. Wie würden Sie sich bei ihm einschleimen?

SCHULZ: Gar nicht. Ich habe als Präsident des Europaparlaments viele Jahre lang autoritär gestrickte Leute getroffen, darunter den türkischen Präsidenten Erdogan und den Ungarn Viktor Orbán. Meine Erfahrung ist: Solche Typen brauchen klare Ansagen. Trump begeht systematisch Tabubrüche, rempelt Repräsentanten demokratischer Staaten einfach weg. Er umgibt sich mit Beratern, die schieren Hass gesät haben. Schleimt man sich bei so jemandem ein? Sagt man schüchtern wie die Kanzlerin: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“? Ich bin überzeugt, dass man bei Trump mehr erreicht, wenn man ihm unumwunden sagt: „Pass auf, so läuft das nicht.“

Apropos Orbán. Wollen Sie die gerechtere Verteilung von Flüchtlingen in Europa auch durch so klare Ansagen erreichen - oder wieso glauben Sie, dass Sie dabei weiter kommen als Merkel?

SCHULZ: Frau Merkel hat viel Akzeptanz bei den europäischen Partnern verloren, weil sie die anderen Regierungschefs vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Das hat es manchem leichter gemacht, sich im Nachhinein der Solidarität zu entziehen. Das entschuldigt die Unwilligen nicht. Ich beharre darauf, dass die Verteilung eine europäische Frage ist - und nicht eine deutsche, wie Herr Orbán sagt. Die EU hat einstimmig einen Verteilmechanismus beschlossen, an den alle gebunden sind. Trotzdem widerspricht Merkel Orbán noch nicht mal, sondern schaut seelenruhig zu, wie die CSU ihn hofiert und auf Veranstaltungen einlädt.

Ihre Kritik an Merkel ist aber noch keine Lösung des Problems.

SCHULZ: Polen und Ungarn sagen Ja zur Solidarität in Europa, wenn sie Geld aus dem Strukturfonds der EU wollen. Sie sagen Nein zur Solidarität, wenn es um Flüchtlinge geht. Mit dieser Rosinenpickerei werde ich Schluss machen. Ich bin mir mit dem französischen Präsidenten Macron einig: Europa ist kein Supermarkt, aus dem sich jeder nimmt, was er will. Ich werde als Bundeskanzler durchsetzen, dass der europäische Haushalt wieder ein Solidarpakt ist. Frau Merkel hat das in den letzten Jahren nicht getan und wird es auch in Zukunft nicht tun.