Der seinerzeitige Chef der Special Forces der USA, Mike Flynn, gibt es im Interview mit Spiegel Online unumwunden zu: Ohne den Irak-Krieg, den die Amerikaner 2003 begannen, würde es den Islamischen Staat nicht geben.

Der Anschlag von Paris deute darauf hin, dass der IS inzwischen über eigene Führungsstrukturen in europäischen Ländern verfüge, die dezentral agierten.

Bekämpfen lasse sich der IS auf eigenem Territorium nicht aus der Luft, sondern nur mit Bodentruppen: "Zuerst gilt es, dem IS sein Territorium wegzunehmen, dann für Sicherheit und Stabilität zu sorgen, die Flüchtlinge müssen ja in ihre Heimat zurückkehren." Dafür müsse der Westen mit den Russen kooperieren, die sich ja nun entschieden hätten, ebenfalls gegen den IS vorzugehen.

Die Araber brauche man als Partner, sie müssten das "Gesicht" der Operation sein, die Amerikaner müssten helfen, auch wegen eines historischen Versagens: "Es war ein riesiger Fehler, Saddam Hussein zu eliminieren. Das Gleiche gilt für Gaddafi und Libyen."

"Alles hängt mit allem zusammen"

Dieser historische Fehler der USA, ja mehr noch, die fatalen Folgen sämtlicher Einmischungsversuche im Nahen und Mittleren Osten, seziert der Historiker Michael Lüders, lange Jahre auch Nahostkorrespondent der "Zeit" in seinem Buch "Wer den Wind sät - was westliche Politik im Orient anrichtet". In einem Vortrag zu diesem Buch fasst Lüders die Zusammenhänge übersichtlich zusammen:

  • 1953 stürzten die USA den demokratisch gewählten Premier im Iran, Mohammed Mossadegh, im Zusammenwirken mit den Briten, die geärgert hatte, dass Mossadegh die Ölreserven im Westiran an der Grenze zum Irak verstatlicht und damit dem Zugriff der ehemaligen Kolonialherren entzogen hatte. Der Schah von Persien agierte danach als uneingeschränkter Verbündeter der USA und Israels .
  • Die späte Reaktion darauf war 1979 die islamische Revolution im Iran, der Klerus mit Ayatollah Khomeini war der einzig verbliebene Agent des sozialen Wandels. Seine Machtübernahme wurde zur Geburtsstunde des "politischen Islam", die Revolte war eine schiitische Revolte (die Sunniten stellen 90 Prozent der 1,6 Milliarden Muslime weitweit, die Schiiten lebten vor allem im Irak, Iran, Libanon, Bahrain und in Aserbaidschan).
  • 1979 marschierten auch die Sowjets in Afghanistan ein. Der ehemalige Sicherheitsberater von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, gab fast 20 Jahre später in einem Interview zu Protokoll, dass die Amerikaner die Russen durch geziele Informationen bewusst in diese Falle lockten, in einen Krieg ohne Aussicht auf Erfolg. Auf die Frage, ob es nicht verantwortungslos gewesen sei, in der Folge die islamistischen Widerstandskämpfer mit Waffen versorgt und damit im Aufbau terroristischer Strukturen unterstützt zu haben, antwortete Brzezinski: "Was ist in der Geschichte der Welt am wichtigsten? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige durcheinander gewirbelte aufgehetzte Moslems oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?"
  • Die Glaubenskämpfer (Mudschaheddin) wurden vom CIA unterstützt mit Waffen, nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 gingen daraus Taliban und Al Kaida hervor. Das Taliban-Regime in Afghanistan wurde 2001 gestürzt, seither verüben sie von Pakistan aus Anschälge gegen die Zivilbevölkerung.
  • Das sunnitisch geprägte Saudi-Arabien war damals immer an der Seite der USA, als geostrategischer Gegner des schiitischen Iran.  Arabische Kämpfer zogen in den Krieg gegen die russischen Besetzer in Afghanistan. Einer davon war Osama bin Laden, der erstmals eine Datenbank von Kämpfern und Glaubensbrüdern im Geiste erstellte, der Ursprung von "Al Kaida" (übersetzt: "die Basis").
  • Osama bin Laden wechselte die Seiten, nachdem Saddam Hussein Kuwait überfallen hatte. Er wollte seine Kämpfer nach Kuwait führen, doch die bisherigen Verbündeten Saudi-Arabien und USA waren dagegen, daraufhin wandte sich Bin Laden gegen sie.
  • Saddam Hussein überfiel Kuwait 1990. Er hatte sich 1979 an die Macht geputscht, führte Krieg gegen den Iran, weil er es auf dessen Erdöl-Reserven abgesehen hatte. Der Iran stand 1982 bereits davor den Irak zu besiegen, doch Saddam Hussein wurde von den Amerikanern mit Waffen hochgerüstet und mit Krediten ausgestattet, sodass sich der Krieg noch einmal bis 1988 verlängerte. Der Verbündete der USA setzte Giftgas ein, auch viele US-Soldaten starben daran, doch in Ungnade fiel Saddam Hussein erst, als er Kuwait überfiel und damit die Öl-Reserven der Amerikaner gefährdete. Eine US-Diplomatin hatte Hussein übrigens signalisiert, dass sich die USA dennoch nicht einmischen würden, was aber offenbar ein Missverständnis war.
  • Der Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait hatte weitreichende Sanktionen der UNO zur Folge, weit über den Tag der Befreiung Kuwaits 1991 hinaus. Eine Million Menschen starben in der Folge davon im Irak, die Hälfte davon Kinder, unter anderem deshalb, weil als Folge der Sanktionen keine Medikamente mehr zur Verfügung standen. US-Außenministerin Madeleine Albright sagte dazu 1996: "Ja, das ist ein hoher Preis, aber wir denken, dass es das wert ist."
  • 2003 erfolgte der Sturz von Saddam Hussein, ohne Plan für den Tag danach. Die USA erzwangen über Nacht die Auflösung der Armee, der Geheimdienste und der Baht-Partei Saddam Husseins. Hunderttausende wurden über Nacht arbeitslos, wussten aber mit der Waffe umzugehen. Die UN-Sanktionen hatten die gesamte bürgerliche Mittelschicht verarmen lassen, jede Ordnung war zusammengebrochen. Traditionell hatte im Irak immer die Minderheit der Sunniten die Macht, durch den Sturz Husseins kam die Mehrheit der Schiiten an die Macht - und übte bittere Rache. Die Sunniten probten den Aufstand - eine der Gruppen war wieder Al Kaida. Neue existremistische Bewegungen entstanden, eine davon der "Islamische Staat" (IS).
  • Der Bürgerkrieg in Syrien ließ ein Vakuum entstehen, in dem sich der IS breit machen konnte.  Assad konzentrierte sich auf die Kerngebiete, die Grenze zur Türkei und zum Irak kontrollierte zunehmend der IS.

Der Grazer Politologe Kerem Öktem fasst zusammen: "Vieles geht auf den Irak-Krieg zurück. Seitdem ist die Region in einem Destabilisierungsprozess." Die USA seien denn auch besonders gefordert in der Bewältigung der Folgen. "Jetzt wollen sie 20.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen. Das ist nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein."