Herr Bundeskanzler, die Opposition und viele Bürger werfen Ihnen vor, bei Gesetzesverletzungen an den Grenzen tatenlos zuzusehen. Ärgert Sie das?

WERNER FAYMANN: Die Gesetze werden eingehalten. Der Verfassungsdienst hat eine Stellungnahme abgegeben, die besagt, die Kontrollen sind verhältnismäßig durchzuführen. Das passiert auch laut Innenministerin.

Die öffentliche Meinung in Österreich ist tief gespalten. Wie wollen Sie den Graben überwinden?

FAYMANN: Das Wichtigste ist, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Wir können unsere Grenzen nicht dicht machen und verhindern, dass Menschen ins Land kommen. Wenn die Menschen 2000 Kilometer hinter sich haben, ist es schlicht und einfach zu spät. Den Zustrom kann man nur politisch in den betroffenen Ländern und durch Sicherung der Außengrenzen Europas stoppen.

Warum hat auch Österreich die Mittel fürs UNHCR gekürzt?

FAYMANN: Wir haben sie nicht gekürzt, aber nicht genug gegeben. Umschichten von anderen Projekten hat auch keinen Sinn. Wenn Millionen aus Afrika kommen, ist das nicht besser, als wenn sie aus Jordanien kommen. Man kann die Entwicklungshilfe nur erhöhen, nicht verlagern.

Haben wir jetzt mehr zugesagt?

FAYMANN: Für die Lager haben wir zwei Milliarden an europäischen und nationalen Geldern zugesagt. Dazu kommen noch die drei Milliarden aus europäischen und nationalen Geldern, die den Menschen in der Türkei zugutekommen sollen. Damit sie sich nicht aufmachen müssen, sondern in der Region menschenwürdig bleiben können.

Wie soll die Verteilung aus den Hotspots funktionieren, wenn sie niemand will?

FAYMANN: Wir haben beschlossen, in Europa 160.000 zu verteilen, haben aber keine Organisation, die in der Lage wäre, diese Verteilung in Griechenland durchzuführen. Wir haben auch keine Organisation, die jene, die von den griechischen Inseln nicht weiterreisen dürfen, weil die Voraussetzungen fehlen, zurückbringt.

Und die anderen will auch niemand wirklich aufnehmen. Ist die Idee mit den Verteilzentren, vulgo Hotspots, nicht ein Luftschloss.

FAYMANN: Nein, ganz falsch. Ein Luftschloss ist ein Zaun rund um Österreich und es kommt keiner mehr.

Das ist auch ein Luftschloss.

FAYMANN: Der Untergang des Abendlandes ist hoffentlich nicht die Realität. Weder Morgen- noch Abendländer gehen unter, hoffe ich. Entweder ist die Europäische Union in sich stark genug, diese Organisation zu schaffen, oder es kann niemand. Wenn in den Hotspots 50.000 oder 100.000 Plätze vorhanden sind, kann man die Leute zurückbringen, die sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht haben.

Noch einmal, wer wird sie nehmen aus den Hotspots?

FAYMANN: Die Quote hat sich durchgesetzt mit den ersten 160.000.

Nur unter Druck.

FAYMANN: Es war ein normaler Mehrheitsbeschluss im Rat. Diesen Beschluss kann man natürlich immer wieder fassen. Man kann ihn ans Geld koppeln . . .

Erpressung?

FAYMANN: Wir müssen alle zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen. Das ist keine Erpressung. Ich habe das vorgeschlagen. Andere haben gesagt, das ist zu früh. Für mich ist es rechtzeitig. Das Zweite ist, Schengen infrage zu stellen: Es kann keine offenen Grenzen geben, wenn wir nicht gemeinsam bereit sind, die Außengrenze zu kontrollieren. Aber zunächst muss die EU die Organisation schaffen.

Gibt es den politischen Willen?

FAYMANN: Der politische Wille fehlt, weil wir Viktor Orbáns Idee folgen und viele Zäune bauen. Orbán hat den Zaun bauen dürfen, weil er eine Außengrenze hat, wie Slowenien. Die Außengrenze beginnt aber eigentlich in Griechenland.

Was meinen Sie eigentlich mit Schutz der Außengrenze?

FAYMANN: In Griechenland und auch in Italien müssten wir die Grenzschutzagentur Frontex so ausstatten, dass sie in der Lage ist, einen großen Teil der Überwachung zu übernehmen. Technisch ist das möglich.

Und die Leute zurückbringen, wo sie hergekommen sind?

FAYMANN: Wenn man mit der Türkei ein Abkommen zustande bringt, ist das der einfachere Weg. Dann können wir eine gewisse Anzahl verteilen und die anderen zurückbringen. Wenn die Türkei dem nicht dauerhaft zustimmt - wir gehen da heute ins Detail - dann muss man den schwierigeren Weg gehen und einen Großteil dieser Arbeit an unseren Grenzen ausführen. Man darf nämlich niemanden in ein anderes Land zurückschicken, das ihn nicht will.

Warum eigentlich nicht?

FAYMANN: Weil unsere Rückführungsabkommen nicht stark genug sind. Die Briten etwa haben in ihrem Rückführungsabkommen Pakistan verpflichtet, die Menschen zurückzunehmen. Wir müssen anfragen und Pakistan kann Nein sagen. Für mich sind alle Lügner, die sagen, ein Land könne das alles allein lösen. Das geht entweder gemeinsam oder es ist ein Schmäh. Die EU sollte solche Abkommen für alle Mitgliedsstaaten gemeinsam abschließen.

Wird daran gearbeitet?

FAYMANN: Es wird daran von jenen gutmeinenden Ländern gearbeitet, die wie ich sagen, das müssen wir entweder europäisch lösen oder wir werden an dieser Frage scheitern. Aber es gibt da mindestens die Hälfte, die uns erklärt, Europa braucht man nicht, auch in Österreich.

Der deutsche Innenminister hat von einem Kontingent gesprochen, die Bayern von einer Obergrenze. Was ist der Unterschied?

FAYMANN: Obergrenzen bedeuten, Sand in die Augen zu streuen. Wie soll das gehen? Ein Grenzbeamter bekommt ein Kontingent, und nach dem 758. am Mittwoch sagt er, danke, heute sind wir voll, der Rest bitte vor der Tür warten? Das ist eine Illusion.

Was meinen Sie dann mit Kontingent?

FAYMANN: Wir finanzieren die Flüchtlingslager und vereinbaren mit diesen Ländern, wie viele wir in Europa nehmen können.

Direkt aus dem Lager?

FAYMANN: Das wäre am besten. Oder über den Hotspot.

Ist das keine Obergrenze?

FAYMANN: Das wäre so, als würde ich den Menschen versprechen, dass jeder das Doppelte verdient. Man muss aufpassen, nichts zu versprechen, was man dann nicht halten kann. Die sogenannte Höchstgrenze entsteht, indem man an der Wurzel und an den Außengrenzen Vereinbarungen schafft, wohin man die Menschen wieder zurückführen kann. Dadurch entsteht die Kontrollierbarkeit. Sie entsteht nicht an der österreichischen Grenze.

Das Projekt Hotspots, wie Sie es schildern, ist riesig. Wie viele Jahre sind wir davon entfernt?

FAYMANN: Das hängt vom Geld ab und vom Einsatz. Durch das Abkommen mit der Türkei würden wir natürlich Zeit gewinnen. Deshalb bin ich ein Anhänger der gemeinsamen Politik, auch wenn dann wieder die Bedenkenträger kommen und sagen, wir müssen die Türkei zuerst überzeugen, eine Demokratie nach westeuropäischen Standards zu werden. Das wird sich zeitlich nicht ausgehen.

Muss die EU die Mitgliedschaft der Türkei als Preis akzeptieren?

FAYMANN: Nein, man muss mit der Türkei politisch einen ordentlichen Umgangston pflegen und auf Augenhöhe verhandeln.

Spüren Sie die Ungeduld der Menschen in der Flüchtlingsfrage?

FAYMANN: Ich habe viel mit Menschen zu tun, die mich besorgt anreden. Das Thema spielt im Bauch und Herzen der Menschen eine riesige Rolle. Ich würde sie anlügen, wenn ich ihnen sagte, es werden nächstes Jahr halb so viele kommen. Wenn in Syrien der Krieg eskaliert, kann ich doch niemandem eine bestimmte Reduktion versprechen. Ich kann ihnen nur sagen, was ich mache, damit es zu einer Reduktion kommt. Ich bin ja für eine Reduktion.

Wann werden Gelder fließen?

FAYMANN: Die Gelder gibt es spätestens im Frühjahr. Wir geben das Geld nicht der Türkei, sondern in einen Fonds, der mit dem UNHCR zusammenarbeiten wird. Die drei Milliarden, über die wir heute verhandeln, werden in Unterkünfte, Schulen und konkrete Baulichkeiten investiert. Wir geben es nicht der Regierung für den Grenzschutz.

Und wann kommen die Hotspots, der Grenzschutz?

FAYMANN: Die erfordern eine völlige Änderung der Organisation. Wir waren bisher in Europa der Meinung, das machen die Länder alles selber. Diese Organisation, die über die Landesgrenzen hinaus wirkt, ist von null an aufzubauen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange das dauert. Ich kann Ihnen nur sagen, ich habe meine besten Leute im Einsatz und wir werden 100 Leute hinunterschicken. Die letzten werden Ende des Jahres dort eintreffen.

Nach Griechenland?

FAYMANN: Für diese Hotspots, es sind fünf in Griechenland und sechs in Italien. Wir diskutieren auch darüber, ob diese Hotspots nicht auch in Bulgarien sein müssten.

Wann werden wir erste Resultate sehen? In einem halben Jahr?

FAYMANN: Das wäre mein Ziel, aber das weiß ich erst nach den heutigen Verhandlungen. Wenn der erste Hotspot funktioniert, bauen wir die anderen aus. Dann sind wir bei Mitte des Jahres. Wenn ich sehe, es geht alles schief, dann weiß ich, wie es weitergeht.

Wie?

FAYMANN: Dann wird Frontex mit militärischen Mitteln Schiffe abdrängen. Dann sehen wir Bilder, die wir nicht sehen wollen. Das Schlimmste wäre der Konkurrenzkampf, wer an der Grenze der Grausamste ist. In den möchte ich nicht eintreten.

INTERVIEW: THOMAS GÖTZ