Die Polizei sprach von 866.000 Teilnehmern landesweit, die Organisatoren gingen sogar von 1,9 Millionen Demonstranten aus. Protestmärsche fanden außer in Sao Paulo auch in der Hauptstadt Brasilia, in Rio de Janeiro, im südöstlichen Belo Horizonte sowie mehr als hundert weiteren Städten Brasiliens statt. Es waren bereits die dritten Massenkundgebungen gegen die Staatschefin in diesem Jahr. Im April waren nach Polizeiangaben landesweit knapp 700.000 Menschen auf die Straßen gegangen, im März waren es über eine Million Menschen.

In Brasilia forderten die zumeist in den Landesfarben Grün und Gelb gekleideten Demonstranten Neuwahlen sowie den Rücktritt Rousseffs oder ein Amtsenthebungsverfahren gegen die 64-jährige Staatschefin. "Dilma raus!" und "Nein zur Korruption!" stand auf den Plakaten. Patricia Soares, die mit etwa 25.000 Mitstreitern in Brasilia protestierte, verlangte den Rücktritt der Präsidentin und ihrer "Mafia der Arbeiterpartei". Sie werde so lange auf die Straße gehen, "bis diese Präsidentin fällt", kündigte die Demonstrantin an.

In Rio herrschte unterdessen eine eher ausgelassene Stimmung. Aus Lautsprechern erklang Samba-Musik, viele Demonstranten trugen Badesachen und kamen mit ihren Surfboards offenbar direkt vom Strand. Ein Mann demonstrierte im Batman-Kostüm, andere trugen rote Clowns-Nasen. Doch war es ihnen mit ihren Forderungen nach einem Ende der Amtszeit Rousseffs und der Regierung ihrer Arbeiterpartei ebenso ernst wie den Demonstranten in Brasilia. "Sie plündern Brasilien und stehlen alles", sagte Rentner Jorge Portugal in Rio.

Die Proteste richten sich vor allem gegen den Schmiergeldskandal um den staatlichen Ölkonzern Petrobras, in dessen Mittelpunkt dutzende Politiker der regierenden Arbeiterpartei stehen. Gegen Rousseff selbst ermittelt die Justiz nicht - obwohl sie während eines großen Teils des Zeitraums, in dem Politiker hohe Schmiergelder erhalten haben sollen, Chefin des Petrobras-Aufsichtsrates war. Die Präsidentin war im vergangenen Oktober mit einer knappen Mehrheit von 51,6 Prozent wiedergewählt worden. Derzeit liegt ihre Zustimmungsrate nur noch bei knapp acht Prozent.

Viele Brasilianer werfen Rousseff zudem eine verfehlte Wirtschaftspolitik vor. Der Internationale Währungsfonds erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 1,5 Prozent sinkt. Auch wegen wegbrechender Steuereinnahmen schreibt die Regierung ein hohes Haushaltsdefizit. Die Ratingagentur Standard & Poor's hat gedroht, die Bonität des Landes als Ramsch zu bewerten. Damit würden die Kreditkosten für Regierung und Unternehmen wahrscheinlich steigen.

Oppositionsführer Aecio Neves, der die Stichwahl im Oktober denkbar knapp gegen Rousseff verloren hatte, sprach in Belo Horizonte zu den Demonstranten. "Brasilien ist aufgewacht", rief er ihnen zu. Die Regierung habe alle Glaubwürdigkeit und Autorität eingebüßt. Das Volk habe genug von "so viel Korruption". Rogerio Chequer, Chef der Gruppe Cem Pra Rua (Geht auf die Straße) und einer der Organisatoren der Demonstrationen, forderte einen Wandel in Brasilien. "Wir ertragen diese Korruption nicht mehr, dieses Ausmaß an Elend und Leid."

Die Regierung reagierte kühl auf die erneuten Massenproteste. Die Demonstrationen seien im Rahmen der "demokratischen Normalität" verlaufen, erklärte Kommunikationsminister Edinho Silva. Rousseff lehnt einen Amtsverzicht bisher kategorisch ab. Am Donnerstag finden in Brasilia die ersten deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen statt, zu denen die deutsche Bundeskanzlerin Merkel mit mehreren ihrer Minister erwartet wird.