Bei den systematischen Verfolgungen der christlichen Minderheit wurden Schätzungen zufolge bis zu 1,5 Millionen Menschen brutal ermordet. Am 24. April werden die Armenier in ihrer Hauptstadt Eriwan zum 100. Jahrestag die Opfer der Massaker ehren.

"Die Erinnerung an den Völkermord ist der mächtigste Faktor für die Bildung einer nationalen Idee in Armenien", sagt der Soziologe Aharon Adibekyan in Eriwan. Was er meint, ist eine gemeinsame Geschichte, die die rund drei Millionen Einwohner der Ex-Sowjetrepublik mit ihren Landsleuten in der Diaspora verbindet. Bis zu zehn Millionen Armenier leben schätzungsweise über die ganze Welt verstreut.

Viele von ihnen reisen zum Gedenken in das Land ihrer Vorfahren. Hunderttausende werden kommenden Freitag an der zentralen Gedenkstätte auf einem Hügel im Herzen Eriwans Blumen niederlegen.

Wie ein erhobener Zeigefinger mahnt ein 44 Meter hoher Obelisk die Besucher der Völkermord-Gedenkstätte. Trauermusik des italienischen Barock-Komponisten Tomaso Albinoni in der Dauerschleife begleitet Besucher über die gut 150 Meter lange, karge Plattform. In einem Steinkreis aus zwölf massiven Platten brennt eine Ewige Flamme.

Hunger, Durst und Krankheiten - oder brutalen Mord - zeigt das nahe gelegene Genozid-Museum. Die Bilder von der Verfolgung der Armenier erschüttern den Besucher. Die Aufnahmen erinnern an Fotos aus den Konzentrationslagern der Nazis, doch diese Massaker geschahen früher.

Im Hintergrund der Gedenkstätte zeigt sich an klaren Tagen der Berg Ararat mit seinen schneebedeckten Hängen - ein Wahrzeichen Armeniens und ein Symbol des Leids, wie der Maler Alexander Ovsepyan sagt. "Der Ararat ist so nah, und ich kann doch nicht zu ihm hinübergehen", sagt er und bietet für ein Gespräch einen Hocker hinter seinem Verkaufsstand auf einem Souvenirmarkt an.

Seit 1921 gehört der mehr als 5.100 Meter hohe erloschene Vulkan zur Türkei. Die Grenze wurde 1993, nur zwei Jahre nach Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Armeniens, wieder geschlossen.

Nach dem Ersten Weltkrieg sprach Sowjetherrscher Lenin den christlichen Armeniern Teile ihres alten Siedlungsgebietes zu. Doch den biblischen Berg Ararat, wo nach dem Alten Testament Noah mit seiner Arche gestrandet sein soll, überließ er der Türkei. Der Berg stehe symbolisch für die großen Gebiete, die seine Vorfahren durch die Vertreibung verloren hätten, erklärt Ovsepyan. "Immer wenn wir den Ararat sehen, erinnern wir uns an das Unrecht."

Bis heute lässt die leidvolle Geschichte auch junge Armenier nicht los. Ihr Land ist von Gegnern umgeben: im Westen die Türkei, im Osten das ebenfalls islamisch geprägte Aserbaidschan, mit dem es seit Jahrzehnten einen blutigen Konflikt um die Region Berg-Karabach gibt, die heute fast nur noch von Armeniern bewohnt wird. Nur die Grenzen zum Iran im Süden und zu Georgien im Norden sind offen und ermöglichen dem Agrarland Handel.

"Dass die türkischen Politiker nicht wahrhaben wollen, was ihre Großväter getan haben, ist eine Ungerechtigkeit", sagt der 28-jährige Ruben auf einem Platz in Eriwan. "Ich fürchte, wenn sich jetzt, 100 Jahre danach, nichts ändert, dann ist das Zeitfenster verschlossen, und der Genozid wird nie anerkannt", meint auch die 23-jährige Asmik.