Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat Israel angewiesen, die umstrittene Offensive in Rafah im Süden des Gazastreifens zu stoppen. Die humanitäre Lage im Gazastreifen habe sich weiter verschlechtert, erklärte das Gericht am Freitag. In Rafah sei sie inzwischen „katastrophal“. „Israel muss seine Militäroffensive sofort einstellen“, erklärte der Vorsitzende Richter Nawaf Salam. Den Antrag beim IGH hatte Südafrika eingebracht.

Die Entscheidung des Gerichts fiel mit 13 zu zwei Stimmen. Dagegen stimmten neben dem Richter aus Israel selbst auch der aus Uganda. Das IGH wies Israel weiter an, den Grenzübergang von Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen für humanitäre Hilfe zu öffnen. Zudem müsse Ermittlern Zugang zu dem Küstenstreifen ermöglicht werden. Die Regierung in Jerusalem müsse darüber hinaus innerhalb eines Monats Bericht erstatten über die getroffenen Maßnahmen.

Netanyahu weist Anschuldigungen zurück

Nach der Aufforderung des Gerichtshofs an Israel erwartet UNO-Generalsekretär António Guterres einen Stopp des Militäreinsatzes. „Der Generalsekretär erinnert daran, dass Entscheidungen des Gerichtshofs gemäß der Charta und der Satzung des Gerichtshofs bindend sind, und vertraut darauf, dass die Parteien der Anordnung des Gerichtshofs ordnungsgemäß nachkommen werden“, teilten die Vereinten Nationen mit.

Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu wies die Anschuldigungen Südafrikas entschieden zurück. Vorwürfe eines Völkermords seien „falsch und ungeheuerlich“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung mit dem israelischen Außenministerium. Der israelische Militäreinsatz in Rafah habe nicht und werde nicht „zu der Vernichtung der palästinensischen Zivilbevölkerung führen“.

Benny Gantz aus dem israelischen Kriegskabinett kündigte an, Israel werde seinen „gerechten und notwendigen“ Krieg gegen die radikal-islamische Hamas fortsetzen. Gantz telefonierte erneut mit US-Außenminister Antony Blinken. Dieser habe am Freitag (Ortszeit) erneut den Stopp einer „großangelegten Operation in Rafah“ gefordert, teilte das US-Außenministerium mit.

Zudem sei Israel erneut aufgefordert worden, mehr humanitäre Hilfe im gesamten Gazastreifen zuzulassen. Blinken habe auch die Bedeutung der Gespräche zwischen Israel und Ägypten über eine Öffnung des Grenzübergangs Rafah betont. Diese müssten so bald wie möglich abgeschlossen werden.

Palästina begrüßt Entscheidung des Gerichtshofs

Er habe außerdem die „dringende Notwendigkeit“ betont, Zivilisten sowie humanitäre Helfer im Gazastreifen zu schützen und die Situation im Westjordanland zu deeskalieren. In dem Telefonat sei es darüber hinaus um die Bemühungen um einen Waffenstillstand gegangen sowie darum, eine Ausweitung des Konflikts in der Region zu verhindern, hieß es in der Mitteilung.

Die Palästinensische Autonomiebehörde begrüßte hingegen die Entscheidung des IGH. Das Urteil stehe für einen „internationalen Konsens“, dass der Krieg im Gazastreifen beendet werden müsse, sagt ein Sprecher der Behörde. Ähnlich äußerte sich auch die islamistische Hamas. Sie forderte die internationale Gemeinschaft dazu auf, Druck auf Israel auszuüben. Auch „Kläger“ Südafrika begrüßte die Entscheidung. Staatspräsident Cyril Ramaphosa zitierte den südafrikanischen Freiheitshelden Nelson Mandela, der gesagt hatte: „Wir werden nicht vollständig frei sein, solange nicht auch die Menschen in Palästina frei sind.“

Der Antrag beim IGH war von Südafrika eingebracht worden. Er ist Teil einer umfassenderen Klage des Landes, in der Israel des Völkermords beschuldigt wird. Israel hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Der IGH ist das höchste Rechtsorgan der Vereinten Nationen (UNO). Seine Entscheidungen sind bindend. Allerdings besitzen die UNO-Richter keine Machtmittel, um einen Staat zur Umsetzung zu zwingen. Sie können aber den UNO-Sicherheitsrat aufrufen, in der Sache tätig zu werden.

Schwere Kämpfe im Norden des palästinensischen Gebietes

Die israelische Armee stieß indes mit Panzern tiefer nach Rafah vor. Bewohner sprachen von Rauchwolken und Explosionen. Sanitäter berichten von schweren Kämpfen in Jabalia im Norden des palästinensischen Gebietes. Mindestens fünf Menschen seien beim Einsturz getroffener Häuser getötet worden, weitere würden unter den Trümmern vermutet. Planierraupen würden Geschäfte und andere Gebäude in der Stadt im Norden niederreißen, hieß es weiter.

Die Zahl der Menschen, die in Rafah Schutz suchen, steige täglich, betonte SOS-Kinderdorf am Freitag in einer Aussendung. Das SOS-Kinderdorf in Rafah sei aktuell der „einzige Ort in Gaza, der Kindern, die ihre Familien im Krieg verloren haben, rund um die Uhr Schutz und Betreuung biete“, so Christian Moser, Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf Österreich. 225 Menschen, darunter Kinder, die schon vor dem Krieg in Betreuung von SOS-Kinderdorf waren, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und Binnenflüchtlinge lebten derzeit im Kinderdorf an der israelisch-ägyptischen Grenze.